Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Verdikt Siegerjustiz nicht rechtfertigt, wenn die Überprüfungen im öffentlichen Dienst keineswegs zur angeblich massenhaften Vernichtung von Existenzen führen, wenn dabei in der Regel allenfalls der Verlust einer hervorgehobenen Position, nicht aber der Verlust von Arbeitsmöglichkeiten im privaten Bereich verbunden ist, dann zeigt sich, dass »Vergeltung« weder beabsichtigt noch praktiziert wurde. Für eine grundsätzliche Revision von Gesetz und Verfahrensweisen besteht also kein Anlass.
Wenn da nicht die Gefahr der Müdigkeit wäre, die Verlockung zum wohlfeilen Vergessen und zur billigen Gnade. Die Psyche der Massen als schwer kalkulierbares Element bleibt uns als Dauerproblem. Was tun, falls das Meinungsforschungsinstitut Allensbach heute mit ähnlichen Ergebnissen aufwartet wie 1948, als die erwachsenen Westdeutschen auf die Frage: »Halten Sie den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?«, zu siebenundfünfzig Prozent mit Ja, zu achtundzwanzig Prozent mit Nein antworteten? Was tun? Erinnern, was wir unter Schmerzen gelernt haben! Nicht schweigen von dem, was wir so gelernt haben! Nicht dem Zeitgeist opfern, was bewahrt bleiben muss. Der Verlust wäre dreifach: intellektuell, politisch und moralisch.
25 Joachim Gauck, »Wut und Schmerz der Opfer«, in: Die Zeit, 20. Januar 1995.
Der lange Schatten der Ohnmacht
Zur Freiheit geboren 27
Eine Rostocker Familie macht einen Sonntagsspaziergang, tief in DDR-Zeiten. Sie stehen in Warnemünde auf der Mole, zwei Jungen an der Hand ihrer Eltern. Ein großes, weißes Schiff fährt aus dem Hafen hinaus auf das Meer. Die Jungen zum Papa: »Wie schön! Da wollen wir auch drauf!« Der Vater: »Das geht nicht. Die Fähre fährt nach Dänemark.« Die Kinder lassen nicht locker. »Aber da sind doch Menschen drauf.« Der Vater: »Da dürfen nur Menschen aus dem Westen mitfahren.« Die Kinder sind empört.
Ihr Vater könnte jetzt sagen, auch er finde es falsch, sogar widerlich, eingesperrt zu sein. Aber er wird versuchen, die Kinder vor Traurigkeit zu bewahren. Sie sollen nicht denken und fühlen, dass sie Gefangene sind. Deshalb wird er ihnen erklären, dass sie noch zu klein sind, um das zu verstehen. Und dass das Eis am Strand von Warnemünde viel besser schmeckt als in Dänemark.
So haben wir das Unnormale oft zur Normalität erklärt, nicht nur für die Kinder, auch für uns. Indem wir uns Schmerz, Wut und Zorn ersparten, machten wir uns lebensfähig. Aber auch hart. Wir verloren die Fähigkeit, spontan auf Unrecht, auf Gefangenschaft und Unfreiheit zu reagieren, so wie ein Kind reagieren kann. Doch vergessen wir nie: Wir alle sind zur Freiheit geboren und nicht zur Gefangenschaft.
Aus der 3. Berliner Rede zur Freiheit, 21. April 2009.
27 Auszug aus Joachim Gauck, »Zwischen Furcht und Neigung – die Deutschen und die Freiheit«, 3. Berliner Rede zur Freiheit am Brandenburger Tor auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung, 21. April 2009, Redemanuskript.
Noch lange fremd
Der Artikel erschien im September 1997 im Magazin »Der Spiegel« 37
Ulm an der Donau. Der allerprächtigste Blick auf Altstadt und Münster an einem wunderschönen Septembernachmittag. Ich soll in einer Runde wissbegieriger, gebildeter und politisch engagierter Menschen einen Wessi-Witz erzählen – einen Wessi-Witz wenige Tage vor dem Ende des verflixten siebten Jahres nach der Vereinigung. Einen der Witze, in denen der Wessi als solcher in einer Mischung aus Ostfriese und Blondine – aber meist gefährlicher als jene – als absonderliches Zerrbild auftritt. Ich fühle mich plötzlich unbehaglich an diesem schönen Ort. Mir fällt kein Witz ein, obwohl ich schon Dutzende gehört habe. Mir fällt wahrscheinlich keiner ein, weil es mich ärgert, dass es solche Witze gibt.
Als wir im Osten noch teils dumpf, teils aufmüpfig, aber allesamt ohnmächtig dahinlebten, als alles seinen sozialistischen Gang ging und allzu viele das Gefühl hatten, sie seien schlicht überflüssig, da gab es die DDR -Witze. Das waren unsere verkrampften Versuche, es »denen da oben« heimzuzahlen, es waren auch Betäubungspillen. Jetzt haben wir Ossis unsere Witze über die Wessis. Und sie erfreuen sich wachsender Beliebtheit.
Wo liegt der Grund für den Erfolg solcher bösen Scherze? Ist das Ausdruck einer mysteriösen ostdeutschen »Befindlichkeit«, die jetzt allenthalben hochstilisiert wird zum Wert an sich und die allerhöchstens teilen darf, wer ihrer für würdig befunden
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