Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
nicht übersehen. Totalitäre Herrschaft lässt den Menschen nicht zu sich selbst kommen. Wo Individualität und Selbstbestimmung verwehrt werden, wo die Teilnahme an der Macht verweigert ist, wird der Staatsbürger zurückverwandelt in den Untertan. Deshalb also verdienen jene, die mit der Ideologie des Sozialismus die Ohnmacht der Ohnmächtigen organisiert haben, keine mildernden Umstände. Wenn man dem Mittelalter die Inquisition vorwirft, wie sollte man jene, die als Zeitgenossen der Moderne ihre Macht auf Entmündigung, Zersetzung, Unterdrückung gründen, freisprechen? Müssten nicht gerade Sozialisten und linke Liberale mit besonderer Verbitterung den Verrat ihrer Ideale durch eine schonungslose Kritik des einst real existierenden Staatssozialismus beantworten?
Zum Glück ist dies für viele aufgeklärte Linke im Westen inzwischen selbstverständlich. Aber gerade in Deutschland missbrauchen Milieulinke immer noch einen rituellen Antifaschismus, um sich vor der Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur zu drücken.
Wenn dieser Gesellschaft in ihrer Neigung, alte Lagersicherheiten immer wieder neu zu beleben, nur Altes einfällt, bleibt der demokratische, antitotalitäre Grundkonsens auf der Strecke. Altlinke in purem Antifaschismus und Altkonservative und Rechte in sturem Antikommunismus ergänzen sich eben nicht, sie blockieren nur die Diskussion. Dabei sind wir ganz gut aus den Startlöchern gekommen vor nunmehr acht Jahren. Im Herbst 1989 haben wir nach langem Gehorsam die Zivilcourage wiederentdeckt. Warum glauben wir uns unsere eigene Revolution nicht mehr? Hat uns die Courage verlassen, weil die eigenen Verdienste angesichts westlicher Dominanz bedeutungslos erscheinen? Oder waren wir nach der langen Entwöhnung von selbstbestimmtem Handeln einfach zu kurzatmig?
Wahrscheinlich stimmt beides. Und wir enden in der Beschwörung alter Zeiten und Werte – und bei den Wessi-Witzen.
Eine Zukunft hat eine solche Haltung nicht. In der Nachkriegszeit im Westen gab es auch Parteien und Gruppen, die ihre Gefolgschaft aus nationalem Frust, Minderwertigkeitsgefühlen und politischem Trotz rekrutierten. Damals beschädigten sie nur den sowieso schon ramponierten Ruf des Landes und trugen zu einem Klima bei, das die Täter der NS-Zeit begünstigte. Heute sind sie alle vergessen.
Ich bin froh, dass ich nicht politisch handeln musste in der frühen Zeit der Bundesrepublik. Gnadenfieber, Schlussstrichneigung und Versöhnungsmetaphorik versperrten den Deutschen den Weg zur Selbstbefreiung durch Anerkennung von Verantwortlichkeit und Schuld. Wir im Osten haben uns nach dem Ende des Stasi-Sozialismus keinen Schlussstrich verordnet, und wir können darauf stolz sein. Wir haben uns dafür entschieden, den Fakten nicht aus dem Weg zu gehen. Wir haben die Archive geöffnet – nicht nur das der Stasi, auch das der Partei und die der Regierung. Wir haben dies selbst entschieden noch im Sommer 1990 vor der Einheit.
Dennoch leben wir mit der Erblast all dieser Jahrzehnte politischer Ohnmacht, die unserer Haltung geschadet hat und die tief in unsere Mentalität eindrang. Sie wird uns noch lange drücken.
Wie gehen wir damit um? Kriechen wir in unsere Wagenburg, unser Zelt und beschnuppern uns dort immer wieder aufs Neue, um uns von der Nähe des Bekannten trösten zu lassen? Oder testen wir das fremde, unbekannte Terrain? Brechen wir mit all unseren Ängsten noch einmal auf – wohl wissend, dass wir angstfrei nicht mehr werden? Und wie oft probieren wir es? Ein-, zwei- oder dreimal?
Die Freiheit lässt uns sicher freier atmen als der alte Mief – sie ist für uns, denen Befreiung doch so wichtig war, weiterhin von entscheidender Bedeutung. Aber im Osten glauben noch zu viele, dass sie mehr Risiken als Chancen der Freiheit präsentiert bekommen. Ich bin nicht dieser Ansicht – nur: Zu viele empfinden dies so.
Wir können uns in der Demokratie nicht schweigend und erschöpft einfach still hinsetzen, als wären wir am Ziel. So haben beispielsweise allzu viele junge Leute keinen Ausbildungsplatz. Dabei könnten gerade diese jungen Menschen viel schneller in der freien Gesellschaft ankommen – sie sind frei von den Lähmungserscheinungen durch langjährige Prägung. Gerade sie könnten und würden die Freiheit, in der man sich etwas getraut, gern ausprobieren. Sie dürfen von den Älteren nicht in das Gefängnis der Nostalgie geholt werden. Sie erwarten vom neuen Deutschland, dass Handlungsräume geöffnet werden
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