Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
und nicht nur die Türen der Arbeitsämter offen stehen.
Wir haben uns 1989/90 mutig geschworen, uns der Wahrheit zu stellen. Wie und warum sollten wir jetzt damit aufhören? Wir lernen dabei auch, den Politikern beim schwierigen Umgang mit heute noch real existierenden Diktaturen genauer auf die Finger zu schauen – vom kommunistischen China bis zum fundamentalistischen Iran der Ajatollahs.
Zum Schluss: Etwas Nostalgie muss sein! »Es war ja auch nicht alles schlecht in der DDR « – wohl wahr. Gut war, dass so viele Nein zum Verrat gesagt haben, Feinde wie Freunde der DDR . Gut war, dass es so unterschiedliche Formen von Opposition gab über alle Jahrzehnte und dass wir – im Land des Gehorsams aufgewachsen – unsere Freiheit selber schufen. Das vor allem war nicht schlecht!
Nach sieben Jahren Einheit scheint mir wichtig: Wir brauchen noch länger Zeit, die Trümmerlandschaft, die die Diktatur in uns hinterließ, zu verwandeln. Den meisten kann dies gelingen. Nur: Von Trümmern, Fehlern und besonders eigener Schuld kann man sich nicht befreien, wenn man die Fehler und die Schuld der anderen thematisiert. Es half nach dem Krieg auch nichts, immer wieder auf die Fehler der Sieger hinzuweisen. Irgendwann kamen wir bei eigener Schuld an und haben sie bearbeitet.
Das hat das Land dann wirklich verändert. Unter anderem deshalb konnten ostdeutsche Demokraten mit Freude auf die Vereinigung mit diesem (West-)Deutschland zugehen.
37 Joachim Gauck, »Noch lange fremd«, in: Der Spiegel, 29. September 1997.
38 Partei des Demokratischen Sozialismus, Nachfolgepartei der SED (1989–2007).
Von Staatsinsassen und Einäugigen
Beobachtungen in einer Übergangsgesellschaft
Der Beitrag erschien 2006 40
Frühe Erfahrungen –
die Geschichte von der kleinen Marie
Wenn ich den Wessis erkläre, wie man ein Ossi wird, spreche ich nicht in erster Linie von der Stasi. Ich fange ganz sachte an und erzähle vom Leben, wenn es sechs Jahre jung ist und man in die Schule kommt. Und erzähle ganz konkret von einem bestimmten Menschen, zum Beispiel einem kleinen Mädchen. Ich würde sie »die kleine Marie« nennen. Und ich würde sagen, wir befinden uns in Bautzen in Sachsen.
Wir werden also eingeschult, bekommen eine Schultüte. Und eilen nach sechs Wochen nach Hause: »Mami, Mami, wir werden Jungpioniere! Wir bekommen ein blaues Halstuch und ein Röckchen, und wir sagen: Seid bereit! Immer bereit!« In diesem unschuldigen Alter denkt man sich noch nichts bei so einem Gruß. »Also weißt du denn schon, was das ist, Marie?«, fragt die Mama. Marie weiß es noch nicht genau, aber: »Das wird schön, wir singen und basteln und wandern.« – »Wir sind doch in der Kirche«, antwortet die Mama, »das brauchen wir doch alles nicht.« In dem Moment stellt sich die kleine Marie vor, wie es nächste Woche in der Schule sein wird. Wo wird sie stehen, wenn die anderen ihr blaues Halstuch tragen und ihr Röckchen anhaben? Ist sie in der Ecke, ist sie draußen? Die Vorstellung, dass sie etwas anders machen muss als alle anderen in der Klasse, verwirrt das kleine Mädchen so sehr, dass es anfängt zu weinen. Und wie es da steht und weint, sagt die Mutter: »Also mach’s in Gottes Namen, aber beschwer dich hinterher nicht, dass es dir nicht gefällt.« Marie strahlt, sie ist glücklich, sie wird Jungpionier.
Den nächsten Einschnitt mache ich in der vierten Klasse. Marie ist zehn, sie kommt nach Hause: »Mami, Mami, wir werden jetzt Thälmann-Pioniere.« Ach Gott, denkt die Mama, aber sie hält sich zurück. Sie erinnert sich nur an jenen unglückseligen Tag am Ende des ersten Schuljahrs, als sie zum Elterngespräch bestellt wurde. Die nichtsahnende Marie hatte in der Klasse einen Witz über Honecker erzählt, den sie zu Hause aufgeschnappt hatte. »Wissen Sie eigentlich, dass das ein Straftatbestand ist?«, fragt die Lehrerin. »Wenn das Kind erwachsen wäre, würde es vor Gericht stehen.« Die Mutter sagt, das sei sicher ein Missverständnis; doch die Lehrerin will es nicht gelten lassen. »Kinder können noch nicht unterscheiden, die wiederholen immer alles eins zu eins. Erzählen Sie mir bloß nichts von Missverständnissen.« Die Mutter hält den Mund, und abends bei der Familienkonferenz zwischen Mann und Frau fällt ein Beschluss: Wenn Marie im Zimmer ist, sprechen wir nicht mehr über Politik. Man will das Kind nicht in Schwierigkeiten bringen.
Kalkül der Anpassung
Wenn wir uns einen Augenblick aus der Geschichte hinausbewegen und
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