Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
tatsächlichen oder unterstellten Fehlern der Bundesregierung viel ältere und grundsätzlichere Ursachen für das gegenwärtige Lebensgefühl ostdeutscher Menschen existieren. Unsere Vergangenheit unter totalitärer Herrschaft war zu lang, als dass die nachhaltige Fremdheit, die Distanz vieler Ostdeutscher einfach verschwinden könnten. Bitter spüre ich ihre Spuren selbst bei Jungen.
Kurz nach der letzten Bundestagswahl treffe ich Sabine, die in Wirklichkeit natürlich anders heißt. Ich habe die siebenundzwanzigjährige Frau einige Jahre nicht gesehen. Wir sitzen in einer Berliner Kneipe, sprechen über die zurückliegende Wahl und unsere eigene Entscheidung. Und zu meinem größten Erstaunen erzählt Sabine, sie habe PDS 38 gewählt. Es verschlägt mir die Sprache. Sabine gehörte zu den erklärten Gegnern der SED . Ausgehalten in der DDR hatte sie es nur, weil sie einen Beruf in der Kirche ergriffen hatte. Ich kannte sie schon als Kind, und später war sie eine der oppositionellen jungen Frauen in einer meiner Jugendgruppen. Nach 1990 hat sie noch mal ein Studium begonnen – sie gehört jetzt objektiv zu den Gewinnern der Einheit.
Ich frage sie – mehr als verwundert –, wo denn ihre politischen Gründe gewesen seien.
Sie habe keine politischen Gründe dafür gehabt, meint Sabine. »Aber ich fühlte mich so heimatlos.«
Als ich Stunden später nach Hause gehe, fällt mir ihr Satz schwer aufs Gemüt. Plötzlich reizen mich nostalgische Ossis nicht mehr nur zum Zorn. Gerade hat mir eine Frau, die ich so lange kenne, eine Spur gezeigt, die ich verfolgen muss. Meine besserwisserische Munterkeit wandelt sich schlagartig in Erschrecken und Traurigkeit. Sabine benennt etwas, das einen Schlüssel zum Verstehen jener enthält, die ich bislang nicht verstehen konnte: Fremdheit.
Deswegen also wählt sie eine Partei, die die Diktatur schönredet, sich fast schon liebevoll daran erinnert. Eine Partei, in der so viele sitzen, die einst diese Diktatur repräsentierten. Sie wählt nicht PDS , weil diese nunmehr ein neues, vielleicht sogar interessantes Programm hat, sondern weil allein die Existenz dieser Partei einen Impuls von Vertrautheit auslöst.
Nicht die alte Ideologie, so scheint mir jetzt, veranlasst viele Menschen zur verklärten Rückschau. Schlechte Lebensgefühle, die aus Fremdheit, Unvertrautheit und Unbehagen entstehen, suchen vielmehr nach Rückbindung. Mehr als rationale Gründe zählt die eine Gemeinsamkeit, etwas, das eben nur wir haben – die in der DDR entstandene Mentalität. Es geht in diesem Zusammenhang weniger darum, solch eine Haltung zu bewerten. Wichtig ist, sich ihrer bewusst zu werden, sie verstehen zu lernen. Mentalität verwandelt sich offensichtlich erheblich langsamer als Wissen und Intellekt.
Wenn wir die Geschichte der frühen Bundesrepublik und die Jahre zwischen 1945 und 1949 im Westen anschauen, so begegnen uns vielfältige Belege für diese Langsamkeit des Mentalitätswandels.
Nicht aus bösem Willen oder ideologiegeleitet, sondern einem eher natürlichen Beharrungsvermögen folgend, behaupten sich trotz oder gerade wegen aller möglichen Umbrüche lebensgeschichtliche Prägungen länger, als es die jeweiligen Lehren vermögen. Dieses Beharrungsvermögen hat seine schlechten wie auch seine guten Seiten. Jahrzehnte der Diktaturen und ihrer Bespitzelungssysteme haben es beispielsweise nicht geschafft, den Menschen einzutrichtern, es sei normal, den eigenen Arbeitskollegen oder gar den Freund zu verraten. Selbst in den späten Jahren der DDR sagte noch die Mehrheit Nein, wenn sie als Spitzel geworben werden sollte. Da hatte der schlichte menschliche Anstand überlebt.
Andererseits zeigte die Diktatur auch Wirkung: Wie etwa sollen Menschen rasch vergessen können, was sie über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg als ihre wesentliche Botschaft verinnerlicht hatten: Passe dich an, und es wird dir gutgehen.
Für viele, mich eingeschlossen, ist es inzwischen relativ gleichgültig, mit welcher Ideologie die Diktatoren ihre Macht begründen. Als Folge totalitärer Herrschaft fällt uns die außerordentliche Ähnlichkeit der Unterdrückten auf.
Diktatur macht krank. Sicher, jede Diktatur bringt auch höchst imponierende Widerstandskämpfer, gelegentlich gar Heilige hervor. Sicher, es entsteht neben pseudoreligiösen Politikinszenierungen höchst subtile Kunst.
Doch selbst wenn uns auch noch mehr Gutes aus schlechten Zeiten einfällt, das Grundübel totalitärer Herrschaft können wir
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