Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Teil einer größeren Revisionsdebatte im linksliberalen Spektrum seit 1989. Ich werde den Verdacht nicht los, dass gerade westliche Protagonisten dem Schlussstrich zuneigen, um alte Fehleinschätzungen nicht revidieren zu müssen.
Einige derer, die auf dem linken Auge blind waren, sind immer noch geprägt durch ihre einstige Unterschätzung des repressiv-totalitären Charakters des realen Sozialismus. Fundamentale Distanzierung blieb aus, das Regime in der DDR wurde als links und nicht als totalitär rezipiert. Fritz J. Raddatz bekannte in der Zeit vom 14. September 1990: »Wir wollten nicht antisowjetisch denken«, und fragt dann selbstkritisch, ob es »links« gewesen sei, zu schweigen, und »reaktionär«, offenbare Realitäten zu kritisieren. Sein Ergebnis: »Schweigen kann Lüge sein.«
Systemkritische Ansätze wie die Totalitarismustheorie wurden ignoriert oder modisch verworfen. Die Bücher derer, die aus bitterer Erfahrung gelernt hatten, wurden in ihrer Dimension verkannt: »Renegatenliteratur«. Dies gilt speziell für den deutschen intellektuellen Diskurs der Nach-Achtundsechziger-Zeit. Wahrnehmungsverweigerung und Blendung waren nicht auf Politik und Journalismus beschränkt. Zeitgeschichtliche, politologische, soziologische und theologische Schulen waren im Blick auf den Osten wie gebannt. War man bei der Analyse des eigenen Systems von schneidender Schärfe, so billigte man den »linken« Ostgesellschaften mildernde Umstände zu.
Eine kritische Theorie zur Entlarvung der östlichen Diktatur fehlte. Kam sie von konservativer Seite, wurde sie, kaum geprüft, verworfen. Kam sie aus antifaschistischer Grundhaltung (Eugen Kogon) oder sozialismuskritischer Position (Leszek Kołakowski), wurde sie marginalisiert. Die Angst davor, als Antikommunist gebrandmarkt zu werden, untergrub den Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte im real existierenden »linken« Totalitarismus in Ostdeutschland. Selbst aufgeklärter Antikommunismus war und blieb inakzeptabel für viele Intellektuelle, obwohl er ein Bruder des Antifaschismus hätte sein müssen – ein Plädoyer für universale Freiheitsund Menschenrechte. Stattdessen gab es eine weitgehende Solidaritätsverweigerung denen gegenüber, die innerhalb des Sozialismus Kritik übten oder gar rebellierten. Sie störten den gepflegten Dialog des Westens mit der alten Herrschaftselite des Ostens.
Ohne substantielle Selbstkorrektur setzt sich diese Haltung bei Teilen bis heute fort (eben nicht nur der Osten, auch der Westen hat umzudenken!), wenn der Psyche und den Interessen der einst privilegierten Schicht mehr Verständnis und Nachsicht entgegengebracht werden als der Masse der einst Unterdrückten. In der Amnestiedebatte fordert dann der Rechtshistoriker Uwe Wesel von den Opfern die Bereitschaft zur Versöhnung, bevor die Täter auch nur ansatzweise die Anerkennung von Schuld und Übernahme von Verantwortung signalisiert hätten.
Und wie groß muss die Befangenheit eines Egon Bahr sein, wenn sein Wunsch nach einem Schlussgesetz dazu führt, noch einmal den Umgang der jungen Bundesrepublik/West mit der NS-Vergangenheit zu rechtfertigen? Die Berufung Hans Globkes, des Kommentators der Nürnberger Rassengesetze, in das Amt des Staatssekretärs im Kanzleramt gilt ihm als rühmenswerte Integrationsleistung Adenauers – ausgerechnet von Globke, dem, wie Ralph Giordano formulierte, »manischen Symbol für bundesdeutsche Restauration«. Soll jetzt nicht mehr richtig sein, was nach 1968 als gemeinsame Überzeugung galt: dass der »große Frieden mit den Tätern« (Ralph Giordano) eine fatale Fehlentscheidung jener Ära war? Dass Verdrängung, Verweigerung von Trauer und billige Gnade eben nicht zur Einkehr und Umkehr führen? Sollen wir also wirklich aus alten Fehlern nicht gelernt haben dürfen?
Wenn diese Schieflage nicht korrigiert wird, kann kein innerer Friede wachsen.
Gerade weil in den fünfziger Jahren die Integration von NS-Richtern, NS-Studienräten, NS-Medizinern erfolgte, rebellierten in den Sechzigern große Teile der jungen Generation gegen das eigene demokratische Gemeinwesen. Wie viel überbordender Protest, wie viel innere Zerrissenheit wären dem Land erspart geblieben ohne jenen frühen faulen Frieden? Dieser Friede ist moralisch, politisch und materiell teuer erkauft. Die Beschädigungen des Deutschlandbildes im Ausland will ich gar nicht erwähnen.
Wenn also die nüchterne Prüfung der heute durchgeführten strafrechtlichen Verfahrensweise das
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