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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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so verdeutlicht dies, dass eben keinesfalls »Siegerjustiz« waltet, dass Urteil und Strafe eben nicht der einzige Sinn justizieller Bemühung sind.
    Verfahrenseinstellungen und Freisprüche erzeugen zwar auch Schmerz oder Wut bei manchen Opfern, aber letztlich lehren sie Respekt vor dem Recht. Wichtiger, als allzu eilfertig eine Minderheit von Unrechtstätern zu integrieren, erscheint mir, den Bürgern zu zeigen, dass der Rechtsstaat ihre Bedenken sorgfältig prüft. Die Verfolgung minderschwerer Delikte wird ohnehin durch die Verjährung begrenzt. Auch von den ungefähr neunzigtausend Ermittlungsverfahren wegen Naziverbrechen führten nur rund sechstausend Verfahren zu Verurteilungen.
    Was nun die Überprüfungen für den öffentlichen Dienst betrifft, gilt grundsätzlich: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat seinen von den Ostdeutschen 1990 definierten Zweck erfüllt. Wolfgang Schnur oder Ibrahim Böhme wurden nicht Ministerpräsidenten. Die Stasi-Offiziere konnten keine »demokratischen« Geheimdienste errichten. Sie und zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter wurden gehindert, Richter, Polizeioffizier oder Professor zu werden. Wer allerdings behauptet, ein belastender Bescheid ziehe automatisch die Entlassung nach sich, kennt weder das Gesetz noch die Praxis. Was zumutbar für eine Weiterbeschäftigung ist, wird in den Bundesländern selbstständig (und zum Teil unterschiedlich) definiert.
    Der Presse war zu entnehmen, dass zum Beispiel die Staatskanzlei in Potsdam eine normale Überprüfung ihrer Bediensteten nicht durchgeführt hat. Im Bereich des dortigen Innenministeriums schieden von 1404 Belasteten 598 aus. In Berlin ergab die Lehrer- und Erzieherüberprüfung (Stand Oktober 1994) nach Angaben des Landesbeauftragten bei 18 608 Anfragen in 4,7 Prozent der Fälle eine Belastung, aber Kündigungen erfolgten nur bei 0,99 Prozent.
    In der Regel fallen die Personalentscheidungen also nach der Überprüfung des Einzelfalls. Wer behauptet, Existenzen würden massenweise vernichtet, fällt Propagandaklischees zum Opfer. Es gibt zweifellos Härten, die unbillig sind und die unnötig wären. Gelegentlich ist die Entscheidung nicht sorgfältig genug abgewogen worden, aber vor Gericht haben solchermaßen Entlassene gute Chancen auf Wiedereinstellung.
    Unsere Behörde hat auf Antrag alle Informationen über eine frühere IM-Tätigkeit herauszugeben, auch wenn diese sehr lange zurückliegt oder äußerst geringfügig war. Hier ist eine Korrektur des Gesetzes denkbar, die entweder eine Art Verjährungsfrist benennt oder Kriterien für unbedeutende IM-Tätigkeit definiert. Nach einer entsprechenden Gesetzesänderung würden geringfügige Stasi-Verstrickungen nicht mehr mitgeteilt. Es zeigt sich, dass bei der Diskussion um Einzelfälle Befürworter und Gegner eines Schlussstriches nicht immer weit auseinanderliegen.
    Warum also die Aufregung?
    Deutschland hat sich relativ großzügig vom Kommunismus verabschiedet. Anders als nach dem Krieg wird nicht nach früherer Parteimitgliedschaft gefragt. Eine »Entkommunisierung« – entsprechend der Entnazifizierung – erfolgte nicht. Schon als die Volkskammer 1990 darauf verzichtete, brachten die Opfer von SED und Stasi emotionale Vorleistungen. Der friedlichen Revolution folgte ein friedfertiger Umgang mit den ehemaligen Stützen der Gesellschaft. Dass für Stasi-Mitarbeiter eine besondere Überprüfung geschaffen wurde, lag darin begründet, dass diese Personen konspirativ gegen die Bevölkerung agierten; sie war wehrlos gegen die unsichtbaren Gegner.
    Im Normalverhalten der Bevölkerung war Stasi-Mitarbeit diskreditiert – weniger als ein Prozent der Ex-DDR-Bevölkerung wurde zum Schluss als IM geführt. Warum also unterstellt Marion Gräfin Dönhoff in ihrem »Manifest«, man wolle ein ganzes Volk durchleuchten? Die Hauptamtlichen zog es nach 1989 zudem nur selten in den öffentlichen Dienst, nicht nur wegen der Überprüfungen, sondern vor allem, weil sie in der freien Wirtschaft, oft gestützt auf ein Beziehungsnetzwerk, wesentlich besser verdienen können. Natürlich gibt es arbeitslose MfS-Offiziere und IM, aber diese teilen das Schicksal breiter Kreise schon früher am Aufstieg gehinderter »Normalbürger«! Wer meint, die Stasi-Überprüfungen seien eine besondere Last für die Ostdeutschen, sollte gelegentlich die einstigen ostdeutschen Industriezentren besuchen: Dort dominieren andere Sorgen.
    Ganz offensichtlich ist die Diskussion über Amnestie und Schlussstrich nur ein

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