Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Ordnungssystemen und Ordnungsträgern, die aus der modernen Zivilisation herauswachsen. Es ist das, was sein kann – trotz oder gerade wegen der Zivilisation.
Es ist eine verstörende Wahrheit, dass das, was Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat, von Grundrechten und Gewaltenteilung fördert, gleichzeitig auch eine Steigerung der Rolle jener Technologie und Rationalität mit sich bringen kann, die antihumane Ziele definiert und sie perfekt und zweckorientiert zu erreichen weiß. So gesehen wären die Europäer (und nicht nur die Deutschen) aufgerufen, die Erinnerung an den Holocaust als eine beständige Warnung wachzuhalten: Hier aus unserer Mitte können Gesellschaftsentwürfe oder auch Einzelhandlungen (Hiroshima) erwachsen, die Verlust und Grauen bereiten anstelle von Fortschritt und Humanität. Die Moderne hat zwar dem Menschen Autonomie gebracht, die Bindung an Gott und seine Gebote aber relativiert und dann weitgehend aufgegeben. Die neuen Menschen, Herren, Richter, Lenker und »großen Gärtner«, werden nun oberste Instanz. Mit den neuen technologischen und planerischen Möglichkeiten erscheint dem omnipotenten Gestalter alles machbar – auch eine neue Gesellschaft. Der Mensch, der widerstrebt, muss nur »umerzogen«, wenn nicht anders möglich auch bestraft oder eliminiert werden. Große Entwürfe fordern eben Opfer! So entstehen neue Formen menschlicher Grausamkeit. Die alte Barbarei wird überboten. Es entsteht – wie Bauman an anderer Stelle ausführt – ein »spezifisch moderner Charakter« des Inhumanen, der dann »den Gulag, Auschwitz oder Hiroshima« ermöglicht, »diese vielleicht sogar unvermeidlich« macht.
So weit Bauman. Wie der Historiker Raul Hilberg ist er davon überzeugt, dass die eigentliche Lehre aus dem Holocaust nur sein kann, dass wir auch gegenwärtig und zukünftig das »Unvorstellbare einkalkulieren« müssen.
Folgen wir diesem Gedanken, begreifen wir: Humanität ist nie im sicheren Hafen. Sie zerfällt oder wird beschädigt, wenn Ratio und Moral gegeneinanderstehen. Unsere Zivilisation ist nicht Geschichte im Endstadium, sondern vorübergehend gesicherte Existenzform.
Um Missverständnisse zu vermeiden, will ich an dieser Stelle hinzufügen, dass sich für Deutsche neben der universellen Bedeutung des Holocaust immer auch eine weitere Perspektive öffnet. Hinzu kommt für uns die Bearbeitung der Schuld durch die Schuldigen, das Zulassen von Scham und Trauer der Mitläufer, die Bemühung um Wiedergutmachung und Versöhnung und eine besondere Verantwortung für die Nachgeborenen. Ebendies ist eine spezielle, an die Nation gebundene Erinnerungsform, die sich nicht »europäisieren« oder »globalisieren« lässt.
III
Vor einiger Zeit hat eine Rede 64 der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete für Aufregung gesorgt, weil sie Nationalsozialismus und Kommunismus für »gleich kriminell« erklärte. Aus der jüdischen Gemeinde und von verschiedenen Debattenteilnehmern war die Sorge zu vernehmen, dass die Erinnerung an das kommunistische Unrecht, die Definitionen desselben und die Form seiner Delegitimierung eine Beeinträchtigung der Rolle des Holocaust im europäischen Denken bedeuten könne. Manche sahen schon im Vergleich der beiden Terrorsysteme eine Relativierung des Nationalsozialismus.
In der Regel ist die Erinnerung an andere Formen von Unrecht zunächst einmal ein Gebot der Vernunft wie der Moral. Niemand braucht einen Vergleich verschiedener Formen von Diktatur und Unmenschlichkeit zu fürchten. Vergleichen lehrt ja vor allem zu unterscheiden.
Das westliche Europa hat sehr lange und sehr intensiv an den Leiden Osteuropas vorbeigesehen. Es lohnt in diesem Zusammenhang, noch einmal François Furet zur Hand zu nehmen, der 1995 in seinem Buch Das Ende der Illusionen der Faszination nachgeht, die für viele europäische Intellektuelle vom Kommunismus ausging. Erschreckend das Ausmaß von Ignoranz und Gutgläubigkeit in weiten Kreisen der Linken, deren kritisches Vermögen ansonsten stark ausgeprägt, hier aber teilweise geradezu ausgeschaltet war.
Stellen wir uns einmal vor, die früheren Sowjetbürger würden sich entschließen, dem Holocaust-Gedenken die zentrale Rolle in ihrem nationalen Diskurs zuzuweisen. Wäre nicht neben dem Nutzen, über den ich im vorigen Abschnitt gesprochen habe, vor allem eine starke Verdrängung der eigenen Geschichte – eigener Schuldanteile wie eigener Opfergeschichten – die Folge? Käme nicht zum dominierenden
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