Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
sich nur an der Frage orientiert »Wir oder sie?«, wenn sie nur auf Sieg oder Niederlage setzt, wird noch der Sieg zur Ursache der nächsten Niederlage. Was auf Hass, Erniedrigung und Demütigung aufgebaut ist, wird Rache ernten.
»Wenn Unversöhntes gegen Unversöhntes steht«, sagt Grossman, »werden zwei Menschen, die großzügig sind und sanft und moralisch, fast wie zwei Bestien. Sie werden zu Repräsentanten ihres Volks, und Repräsentanten neigen dazu, Dinge zu verteidigen, die sie gar nicht glauben, die sie sogar hassen.«
Die Frage ist: Schaffen wir es, der Falle zu entgehen und unser ICH auch in Krisensituationen nicht nur als Repräsentanten des WIR zu begreifen? Haben wir den Mut, uns dem anderen zu nähern, mit ihm solidarisch oder ihm treu zu bleiben, auch wenn unser WIR gekränkt, verletzt, bedroht ist und sich die Reihen schließen? Wie viel Kraft kostete es einen Serben während des Kriegs in Jugoslawien, sich nicht von seiner kroatischen Ehefrau scheiden zu lassen? Und wie viel Kraft kostete es in der NS-Zeit, sich als »Arier« nicht von der jüdischen Ehefrau zu trennen?
Wohl kaum jemand von uns hier in der Paulskirche steht in der Zerreißprobe, eine doppelte Loyalität leben zu müssen. Grossmans so unbedingtes wie kritisches Ja zu Israel, dem Land, mit dem er sein eigenes wie das Leben seiner Kinder verbunden hat, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sein Verständnis von Patriotismus nicht im Gegensatz steht zu seiner uneingeschränkten Bejahung der Menschenrechte, die den Respekt auch vor dem anderen lehrt. Ein einfacher, und doch sehr schwer zu befolgender moralischer Imperativ.
Hat die jüdische Mutter Ora im Roman ihren palästinensischen Fahrer Sami nicht überfordert, als sie ihn beauftragte, sie und ihren Sohn in das Militärlager zu bringen, wo »die Aktion« der Israelis gegen die Araber beginnen würde? »Er kommt um vor Angst«, erkannte Ora später, »wie konnte ich ihm das antun?« Sami fürchtete die Autos der Juden um ihn herum, die das Liebste, was sie besaßen, zu einem gefährlichen Einsatz brachten – hätten sie ihn nicht für einen Selbstmordattentäter halten können? Und Sami fürchtete die Anklagen seiner Landsleute – stand er nicht im Verdacht, mit den Juden zu kollaborieren?
Es gibt glücklicherweise auf beiden Seiten Menschen, die Feindschaft, auch Hass und Groll auf die andere Gruppe überwinden und Brücken schlagen zum verfeindeten Gegenüber. Wir erinnern uns an den Palästinenser Ismail Khatib, dessen elfjähriger Sohn Achmed vom israelischen Militär im besetzten Westjordanland erschossen wurde. Khatib spendete die Organe des Sohnes und rettete damit fünf Kindern das Leben, die zur Nation seiner Feinde gehören.
Wir schauen auf den israelischen Psychologen, der jede Woche mehrere Stunden den Austausch mit seinen palästinensischen Studenten sucht und dem einer seiner Studenten bekannte: »Einst dachte ich, wie schade, dass Hitler nicht alle Juden umgebracht hat. Dann habe ich mit dir geredet und bin zusammen mit Juden nach Polen gefahren, um zu sehen, was geschehen ist.« Der so gesprochen hat, wollte sich dem Leid des anderen stellen. So konnte er ein Mitgefühl entwickeln, das ihn erkennen ließ, wie tief die Angst vor Vernichtung in denen steckt, deren Übermachtgebaren ihm sonst als bloße Arroganz erschienen war.
Aber wie viele Menschen auf beiden Seiten sind imstande, den jeweils anderen mitzudenken? Welche Chancen hat eine Friedenspolitik noch nach Jahren zunehmender Verhärtung?
»Klingt ja ganz schön«, schreibt Grossman, »mit Herzl zu sagen: ›Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen‹ – aber was, wenn einer nicht mehr will? Oder wenn einer zum Wollen keine Kraft mehr hat?« Die größte Gefahr, sagt Grossman, zerstörerischer als die Bedrohung durch die Hamas, sei das »Dahinschwinden des israelischen Selbsterhaltungstriebs«. Wie lange kann man noch wollen, wenn man die Hoffnung verliert? Wie lange kann man durchhalten, wenn man sich allein gelassen fühlt und die Zahl der Freunde abnimmt?
Die Vereinigten Staaten gehörten zu den Freunden, erklärt Ora im Roman ihrem noch kleinen Sohn. Auch England zähle zu den Freunden. Über die übrigen Staaten Europas wischte ihr Finger auf der Landkarte aber nur noch grob hinweg. Und es versetzte mir einen Stich, dass WIR , dass Deutschland in Grossmans Empfinden nicht zu den Freunden seines Landes gehören sollte.
Es war doch nicht allein der Philosemitismus meiner Generation, den Grossman
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