Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
prägen, sind gebunden an Lebensräume und Schicksalsgemeinschaften; auch hat jede Zeit ihre ganz eigenen Erinnerungsmuster, eigene Selektionsmuster. Trauma und Versagen, Angst, Schuld, Leid, Todesnähe werden unterschiedlich intensiv eingelagert in das Gedächtnis, oft früh vorsortiert, »verpackt«, vergessen, verdrängt. Ähnlich verhält es sich mit Siegen, mit Erfolgen, Glück, materiellem und geistigem Gewinn. Entwickeln sich Menschen und Gesellschaften weiter, werden auch die Erinnerungsschwerpunkte sich ändern, zum Teil auch die Zugriffe auf die unterschiedlichen Erinnerungsspeicher.
Auffallend ist, dass eine postdiktatorische Gesellschaft, die sich erst am Anfang eines geistig-politischen Transformationsprozesses befindet, häufig den Speicher meidet, in dem die dunklen Seiten eingelagert sind. Allem Anschein nach gewinnen erst etablierte Zivilgesellschaften schrittweise, gelegentlich auch in »Schüben« die Fähigkeit, selektives, schonendes Erinnern einzutauschen gegen umfassendes Erinnern. In dieser Form wird nicht nur den Fakten ihr Recht wieder eingeräumt, vielmehr gerät eine »Aufarbeitung« der Vergangenheit auch zu einer Wiedergewinnung geistiger Werte, ja im Zulassen von Schmerz, Scham und Trauer auch zur Wiedergewinnung einst »verlernter« Gefühle und damit zur Wiedererlangung einer emotionalen Kompetenz, die die Autonomie der Person wiederherstellt.
Und da wir Phänomene kollektiver Verdrängung kennen, glauben wir ebenso, dass der beschriebene Gesundungsprozess nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen und Großgruppen widerfahren kann. Im Nachkriegsdeutschland (West) haben wir schon erlebt, dass kathartische Elemente wachsen können, und auch, dass eine Nation sich nicht verliert, wenn sie selbstkritisch und entschlossen die eigene Schuld bearbeitet. Uneingestandene und unbesprochene Schuld bindet an die alte Zeit, macht befangen, mutlos und erpressbar. Wahrheit befreit.
II
Nicht nur aus deutscher oder jüdischer Sicht ist die Erinnerung, Vergegenwärtigung und Darstellung des Holocaust von zentraler Bedeutung. Allerdings erleben wir, dass auch hier die Art des Erinnerns und Gedenkens sich verändert – nicht allein durch die Tatsache, dass die Zeitzeugen aussterben. Nur am Rande sei die Gefahr der Trivialisierung des Holocaust-Gedenkens erwähnt. Unübersehbar aber gibt es eine Tendenz zur Entweltlichung des Holocaust. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach einer neuen Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne leidet, der kann mit der Orientierung auf den Holocaust einen negativen Tiefpunkt gewinnen, auf dem sich – so die unbewusste Hoffnung – so etwas wie ein spezifisches Koordinatensystem errichten lässt.
Würde der Holocaust in einer derart unheiligen Sakralität auf eine quasireligiöse Ebene entschwinden, wäre er vom Betrachter allerdings nur noch zu verdammen und zu verfluchen, nicht aber mehr zu begreifen. »Aber der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hoch entwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muss daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden«, wandte der jüdisch-polnische Soziologe Zygmunt Bauman, dem ich meine modifizierte Sicht auf den Holocaust verdanke, gegen derartige Sichtweisen ein und konstatierte die Gefahr einer »potentiell suizidalen Blindheit«. 62
Er verwirft Erklärungen, die allein auf die Bestialität der Täter, den Charakter Hitlers, die besondere Unterwürfigkeit der Bevölkerung, deren Rassenwahn und Ähnliches verweisen. Er glaubt nicht, »dass die Ursachenforschung abgeschlossen wäre, wenn Deutschland, den Deutschen und den Nationalsozialisten ihre Schuld moralisch und materiell nachgewiesen sei«. 63 Er sieht den Holocaust auch nicht als Beschädigung, Verletzung einer ansonsten intakten Zivilisation – vielmehr umgekehrt als »Produkt« dieser Zivilisation oder – anders gesagt – als das andere Gesicht der Zivilisation. Demnach ist dieses extrem monströse Verbrechen kein Rückfall in die Barbarei, sondern eine Seinsweise von
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