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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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bemerkt haben muss, es waren doch auch die vielfachen Bemühungen des westlichen Deutschland, deutsches Unrecht wiedergutzumachen. Und sind mit Generationsverzögerung Scham und Trauer nicht doch eingekehrt in unserem Land? Es sind doch Überlebende der Schoah zurückgekommen und Juden aus der Sowjetunion zugezogen.
    Deutschland – so denke ich – dürfte das letzte Land sein, das Israel Beistand und Solidarität aufkündigt. Gerade weil uns Israel am Herzen liegt, gerade weil wir die Bedeutung von Heimat für ein Volk tief verstehen, das in der Diaspora verfolgt und schließlich von Deutschen sogar ausgerottet werden sollte, sehen wir uns in einer besonderen Pflicht, an seinem äußeren und inneren Frieden mitzuwirken.
    Allerdings gilt für Freundschaft, was auch für Loyalität gilt: Kritik darf nicht als Gegensatz oder gar Feindschaft ausgelegt werden. Freundschaft ist manchmal sogar ernsthafter und verlässlicher, wenn sie die Kritik am Freund nicht scheut. David Grossmans Geneigtheit des Herzens zu dem Land, das man woll en muss, schaltet seinen Verstand und sein Verständnis für die Interessen der anderen nicht aus. Ich bewundere diese Fähigkeit, ich wünsche mir diese verständige Güte in meinem Leben wie in die Herzen der Verzweifelten, Aggressiven und Suchenden in Israel und Palästina!
    *
    David Grossman ist durch die Schicksalsschläge nicht erstarrt, apathisch geworden, nicht paralysiert. Er hat seine Handlungsfreiheit behalten oder manchmal vielleicht auch wiedergewinnen müssen. Nach dem Tod des Sohnes, nach der Trauerwoche kehrte er zu seinem Roman zurück und schrieb sich hinein in einen Ausweg, in das weitere Leben. Verzweifeln ist ein Luxus, den David Grossman sich nicht erlauben will.
    Nach ihm hängt es von uns Menschen ab, ob der Hass die Oberhand gewinnt: in uns und letztlich auch im öffentlichen Raum. Ob die vielen und tiefen Verletzungen und Demütigungen zwischen verschiedenen Völkern überwunden werden können, weil Menschen in Dialog miteinander treten. Begegnung hilft. Dialog hilft. Dialog mit dem Fremden, Dialog mit sich selbst, um nicht in Hass und Groll zu erstarren, um das Leid des anderen zu erkennen und um im anderen sich selbst zu begegnen.
    Ich sehe David Grossman nicht als den Naiven, der meinen könnte, dass durch Brücken von Empathie und Verständnis Feindschaft total aufgelöst werden könnte. Aber selbst wenn ihr nicht der Garaus gemacht werden kann, so kann ihr vielleicht doch eine Zeit des Moratoriums aufgezwungen werden, das die Suche nach dem Kompromiss bestärkt, der den Frieden baut.
    Es bleibt keine Alternative zum Dialog, zu Verhandlungen, zum Kompromiss. »Ich finde«, hatte bereits Ben-Gurion vor vielen Jahren gesagt, »dass nichts anderes übrig bleibt, als miteinander in die Zukunft zu gehen. Noch ist es zu früh, aber einmal werden wir einander vertrauen können.«
    Es sind nicht wenige, besonders unter den Jungen, die überlegen, Israel heute den Rücken zu kehren, weil sie sich dem Land nicht mehr so verbunden fühlen wie die Menschen zu seiner Gründungszeit. Im Roman lässt Grossman den jungen Soldaten Ofer seiner Mutter ins Ohr flüstern: »Wenn ich umkomme, dann verlasst ihr das Land. Dann habt ihr hier nichts mehr verloren.« Auch Grossman und seine Frau haben sich gefragt, was wäre, wenn sie das Land verlassen. Doch sie haben sich entschieden zu bleiben. Denn »Israel«, sagt Grossman, »ist der einzige Ort auf der Erde, wo ich mich nicht als Fremder fühle. Ich betrachte es als Privileg, am Aufbau dieses Landes beteiligt zu sein.« In der Mischna, der Basis des Talmud, heißt es: Wem ein Wunder widerfährt, der erkennt es nicht unbedingt als solches. »Ich«, sagt Grossman, »erkenne das Wunder: Wir Juden haben einen Staat.«
    *
    Wir rühmen und preisen heute jene, die nicht weichen, sondern stehen. Wir rühmen und preisen David Grossman als einen von ihnen.
    Danke David.
    Du stehst vor deinem Goliath, dem alltäglichen Hass – angetan nicht einmal mit einer Steinschleuder.
    Aber du bist David.
    59 Vortrag auf Einladung der Universität Lodz, März 2012, Manuskript im Privatbesitz.
    60 Am 8. Oktoner 2010 wurde bekannt, dass der inhaftierte chinesische Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo den Friedensnobelpreis erhält.

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    Stuttgart, 28. März 2006, Vortrag auf Einladung der Robert Bosch Stiftung 61
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    Erinnerungen, besonders jene, die das kollektive Gedächtnis

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