Nicht ganz schlechte Menschen
eigentlich ihr Tod als die erbärmliche
Nebenrolle, die ihm dabei zugemutet worden war, so sehr fand er sich nun
bereit, unter das Geschehene einen Strich zu ziehen und ein neues Leben zu
beginnen. Julie hatte ihm etliches hinterlassen, er mußte sich für den Rest
dieses neuen Lebens in finanzieller Hinsicht keine Sorgen mehr machen. Und
Ellie, seine Braut in spe, hatte sich prächtig bewährt während der Krise, hatte
ihm die schwarzen Gedanken aus der Stirn gekrault und liebevolle Worte
geflüstert. Selbst wo sie das Angedenken an Julie zu unterlaufen versuchte,
meinte sie es ja zweifellos nur gut. Pierre hatte ihr Julies letzten Brief
ausgehändigt, wie um Ellie mit der Dimension seines Leidens vertraut zu machen.
Sie sollte begreifen, in welchen Abgrund ihn diese Zeilen einer Toten gestoßen
hatten.
Und Ellie wies ihn geschickt, einfach indem sie die Passage immer
wieder vorlas, als müsse sie deren Gehalt erst selbst noch richtig einordnen,
auf etwas hin, was er bis dahin immer überlesen hatte.
Mein
lieber Mann, wir hatten unsere schönen Jahre, und danach, naja, hast du mir den
Freiraum gewährt, der mir so wichtig und notwendig war. Ich konnte nicht in
allen Belangen die Ehefrau sein, die du dir erhofft haben magst, verzeih mir
das bitte.
Das Wort ›Freiraum‹ betonte Ellie derart, daß es Pierre beinahe
brüskierte. Sie stieß ihn mit der Nase auf etwas, das er bisher nicht
wahrgenommen oder vor sich ausgeblendet hatte.
Julie hatte einen Freiraum genossen. So wie Ellie die Vokabel intonierte,
wurde sie zu etwas Geheimnisumwittertem, einem Hort des Bösen, einer Brutstelle
des Verrats. Ellie meinte, er rede sich da sicher nur etwas ein. Pierre aber
wollte sich genau das einreden, weil es ihm guttat.
Ich bitte dich um dein unabhängiges Urteil – als Frau – , niemand
geht so mutterseelenallein von dieser Welt, es sei denn eine von allen
verabscheute Kreatur, hab ich recht? Und Julie war alles andere als eine
verabscheuungswürdige Kreatur! Was meinst du?
Ellie zuckte mit den Schultern, als stünde es ihr nicht an, in
dieser Frage Stellung zu beziehen.
Ich werde nie erfahren, wer Julie in ihren letzten Wochen
beigestanden hat. Rief Pierre nun laut. Und weißt du was? Es ist mir auch
vollkommen egal! Sie ist tot, und wir zwei leben!
Amen! Sagte Ellie und empfing einen ungehemmten Schwall von Liebe,
den sie kaum in sich unterzubringen wußte. Ihr war, als hätte sie sich im
Wettkampf mit einer Toten passabel geschlagen und behauptet. Pierre würde ihr
auf Monate hin gehören. Das gefiel ihr. Sogar sehr.
Mit gemischteren Gefühlen als Karl war selten ein Mensch
auf seiner Arbeitsstelle erschienen. Ebensosehr wie er sich freute, Mila wiederzusehen,
bekümmerte ihn das Schicksal der armen Ines. Warum die Sturmgarde, eine Art
Stadtpolizei, sie verhaftet hatte, war ihm ein Rätsel. Es stand zu entscheiden,
ob er über ihren Verbleib etwas herausbekommen wollte. Das wäre mit etlichen
Risiken verbunden. Andererseits bestand das vielleicht viel höhere Risiko
darin, das Geschehen einfach hinzunehmen, wie jemand, der etwas zu verbergen
hatte. Karl sprach seinen diensthabenden Offizier direkt darauf an. Seine
Zimmerwirtin, Ines Rodrigo, sei verhaftet worden. Von der Guardia de Asalto . Er
würde gerne wissen, warum. Entweder, um ein mögliches Mißverständnis zu
korrigieren, oder um zu erfahren, bei welchem verkommenen Subjekt er da über
Monate hinweg gehaust habe.
Der Offizier, ein Spanier, zuckte mit den Achseln. An sich wollte er
dem Studenten, der so beispielhaft Dienst leistete, gern einen Gefallen tun.
Karl hatte für seine Ohren auch den richtigen Ton getroffen, eine Mischung aus
Chuzpe und Unterwürfigkeit. Aber über einzelne Gefangene, vor allem wenn es
sich um politische Gefangene handelte, konkret etwas zu erfahren, war
schwierig. Karl appellierte an die Kompetenz seines Vorgesetzten. Jemand wie
Sie, sagte er, wird sicher Wege und Möglichkeiten besitzen, nicht wahr? Der
Chef der Sturmgarde ist doch einer von uns, oder nicht? Mir liegt wirklich viel
daran.
Der Offizier brummte erst mißmutig, dann führte er ein Telefonat,
wobei er sich den Namen der möglichen Gefangenen noch einmal buchstabieren
ließ. Es folgten zwei weitere Telefonate. Endlich schüttelte er den Kopf und
legte auf.
Die haben, sagen sie, keine Ines Rodrigo verhaftet.
Karl nickte wie geistesabwesend, um die Angelegenheit, die er
bereits gefährlich aufgebauscht hatte, zu marginalisieren. Bedeutete diese
Auskunft etwa,
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