Nicht ganz schlechte Menschen
trinken.
Was war nun das? Karl hatte Angst. Schon winzige Mengen Alkohol
hatten bei ihm stets einen Zustand des Nicht-mehr-völlig-bei-sich-Seins und
Kopfschmerzen bewirkt. Aber wenn Mila unbedingt wollte. Sie goß ihm ein
Wasserglas voll, er trank es in einem Zug aus und fragte: Können wir jetzt
gehen?
Jetzt ja.
Alle sahen den beiden hinterher, und Vati murmelte etwas in sich
hinein, das Karl nicht verstand, obwohl er es sehr wohl verstand.
Vor dem Gebäude, in tiefer Dunkelheit, gestand er Mila seine Liebe.
Sie lachte und gab ihm einen Kuß. Dann zog sie ihn hinter sich her, durch die
finsteren Straßen, und immer wieder betonte er seine Liebe, nie habe ein
weibliches Wesen ihn derart in Verzückung versetzt, jawohl, was denn ihr Freund
dazu sagen würde, daß sie ihn einfach so küsse in dieser mondlosen Nacht – und
Malaga, was meine sie dazu? Das sei doch furchtbar, so wie sie schön sei,
atemberaubend schön. Sie waren vor einer Art Wohnheim angelangt, in dem Mila –
er vergaß, nach ihrem echten Namen zu fragen – ein Zimmer besaß.
Du kannst nicht mit reinkommen. Das verstehst du, oder?
Ich verstehe alles. Alles.
Findest du nach Hause?
Sicher. Keine Sorge.
Ich mag dich. Bis morgen.
Nie in seinem Leben, Malaga und Leichenberge hin oder her, war Karl
so glücklich und ausgelassen wie in dieser Nacht, als er durch Barcelona
tänzelte, taumelte, auch wenn er sich mehrmals verlief und erst gegen vier Uhr
morgens sein Haupt – heißa! – aufs dafür vorgesehene Kissen bettete.
Als er gegen zehn Uhr morgens aufstand und, wie gewohnt,
eine Tasse Kaffee trinken wollte, rief er vergeblich nach Ines, sie war nicht
in der Wohnung. Das kam mitunter vor. Er hatte an diesem Tag zwei Seminare und
danach eine Lateinstunde mit Sebastián zu absolvieren. Zwischendurch kaufte
Karl von einer Greisin auf der Rambla ein Stück selbstgemachten
Diabetiker-Apfelkuchen, weil es Zucker gerade nicht gab, und aß ihn, weil es
Kaffee offensichtlich auch nicht gab, mit kaltem schwarzem Tee, den ein
Kioskbetreiber anbot, zum Preis einer Viertelpesete zuzüglich fünf Centesimos
Pfand für den Becher. Viele Tische der Cafés waren von obsessiven
Dominospielern besetzt, die niemand aus ihrer Ruhe bringen konnte, als ginge es
ihnen darum, zu demonstrieren, mit welcher Verachtung sie dem Leben
gegenüberstanden, indem sie einen Großteil davon mit dem Herumgeschiebe von
Holzklötzchen vertändelten. Genaugenommen, gab Karl zu, könne man genau
dasselbe über Schachspieler sagen, wenngleich das doch irgendwie (aber wie
genau?) etwas anderes war. Nach einigem Nachdenken beurteilte er die
Domino-Enthusiasten milder als im ersten Zorn. Jedem Lebewesen müsse
zugestanden werden, seine Zeit auf Erden nach Gusto abzusitzen, mit geistlosen
Ablenkungen aller Art. Diese Freiheit müsse jegliches politische System dem
Individuum gönnen, ansonsten eine Unfreiheit entstünde, die totalitär genannt
werden könne. Was aber, fragte sich Karl, mag geschehen, wenn es zu viele
solcher Verweigerer gibt? Wenn die gute Sache unter allgemeinem Desinteresse
entscheidend leidet? Darf eine Bewegung dann die Rechte des einzelnen
regulieren und beschränken? Gibt es einen Zweck, der jedes Mittel heiligt?
Mit Sebastián paukte er unregelmäßige Verben, aß Kekse, die ihm
Mutter Rosario auf einem Silbertablett offerierte, und trat mit breiter Brust
auf den Balkon hinaus, unter dem die Stadt in all ihrer Schönheit lag. Wie
hatte sich sein Leben in so kurzer Zeit zur puren Erfüllung hin verwandeln
können? Er hatte Arbeit, war grundversorgt, studierte, fand am Studium sogar
Gefallen, und ein Engel hatte ihn geküsst. Ich mag dich. Bis morgen .
Diese fünf Worte Milas machten den Tag zum Fest und die Nacht zum Ziel aller
Sehnsucht.
Ab halb sieben Uhr abends hielt er sich erneut in der Wohnung auf,
von Ines war wieder nichts zu sehen, was ihm nun doch sehr merkwürdig vorkam.
Es klopfte. Draußen stand der Nachbar, der sehr alte Mann, der Ines einmal als Carajo Mujer tituliert hatte. Inzwischen war Català für Karl keine völlige Fremdsprache mehr,
und es gelang ihm, das Wesentliche dessen, was der fast zahnlose Mensch
mitteilen wollte, zu begreifen. Ines sei abgeholt worden, gestern Nacht, von
der Guardia de
Asalto , den Sturmgardisten, sie habe sich der Festnahme ein wenig
widersetzt und einen Knüppelhieb abbekommen. Und geblutet. Übers ganze Gesicht.
Pierre kam langsam wieder zu sich. Sosehr ihn der Tod
seiner Frau beschäftigt hatte, weniger
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