Nicht ganz schlechte Menschen
und die Hand zum Hitlergruß
ausstreckten. Deutschland, die Kulturnation, die der Welt soviel Gutes und
Schönes geschenkt hatte, war zum Vollzugsorgan eines unberechenbaren Tyrannen
geworden. Angesichts dessen, schlußfolgerte Karl, münde jede Kritik an Stalin
in verantwortungslose Korinthenkackerei. Nun ging es um alles, Details wurden
zu Kleinigkeiten, Vertrauen wurde gebraucht und absolute Hingabe zur einzigen
Kraft, die sich Hitler, Mussolini, Franco und Konsorten noch entgegenzustemmen
bereit war. Trotz, ja entgegen allen Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg,
ungeachtet sämtlicher dort getroffener Fehlentscheidungen, blieb Karl,
letztlich auch aus Mangel an sonstigen Möglichkeiten, ein Verehrer des
grobschlächtigen Georgiers, der die Sowjetunion repräsentierte.
Am 4. Dezember fand wieder eine Soso statt, bei geänderten
Verhaltensregeln. Der frivole Teil des Programms wurde gegenüber dem
kulturellen reduziert. Die Stammgäste wurden vorab darum gebeten, keine
anstoßerregenden Travestie-Kostüme zu tragen und von öffentlichen
gleichgeschlechtlichen Zuneigungsbekundungen abzusehen, was gemeinsames Tanzen
einschloß. Pierre hatte darauf bestanden, weil er überall deutsche Agenten sah
oder zu sehen glaubte. Es war eine fade Veranstaltung, und das Streichquartett,
das Werke von Schubert, Brahms und Hindemith spielte, wurde mit nur lauem
Beifall bedacht. Max schwang sich zwischendurch auf die Bühne, und seine
Freunde erwarteten, daß er aus dem Roman vorlesen würde, den er gerade schrieb.
Doch Max entfaltete eine Zeitung.
Meine Damen und Herren und Unentschiedenen, so wandte er sich ans
Publikum, wodurch er Gelächter auslöste. Wollen wir kurz innehalten und der
deutschen Jugend gedenken.
Er rezitierte eine auch in Frankreich vielbeachtete frische Rede
Hitlers vom 2. Dezember. Mit leicht karikierender, doch erstaunlich exakt
getroffener Stimmlage und Rhythmik.
»Diese
Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn
diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft
zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie
vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie
wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände
unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort
in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS , in das NSKK und so weiter.
Und
wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze
Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst
und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem
Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch
an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte,
das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und
wenn sie nach zwei oder drei Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit
sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA , SS und so weiter, und
sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.«
Den letzten Nebensatz wiederholte Max etwas theatralisch, womit er
jedoch große Wirkung erzielte.
Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.
Meine Damen und Herren und entschiedenen Gegner dieses
Brunnenvergifters, ich trinke darauf, daß unser Haus Auswüchse solcher Zucht
nie beherbergen muß. Salut!
Alle, die ihm zuhörten, fröstelte es. Karl erhob sein Glas und
brachte einen Toast aus. Freiheit! Und Ellie fügte hinzu: Paris! In diesem Moment
fühlten sich beide als Helden, zogen nicht geringen Stolz daraus, dem Regime
entkommen zu sein, der Heimat rechtzeitig den Rücken gekehrt zu haben. Vive la France! riefen einige der Gäste und stimmten spontan die Marseillaise an. Es war ein
feierlicher Moment.
Als würden höhere Wesen Einsicht zeigen, auf jene kollektiv geäußerte
Bitte hin, ergab sich eine unerwartete Wendung.
Am
6. Dezember unterzeichneten Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und sein
französischer Amtskollege George Bonnet die gemeinsame Erklärung über das
künftige gutnachbarliche Verhältnis der beiden Staaten und die Unverletzbarkeit
der beiderseitigen Grenze. Man wolle sich bei internationalen Konfliktfällen
gegenseitig konsultieren. Nach der deutsch-britischen Erklärung von München
wurde hier die zweite westliche Großmacht besänftigt. Das konnte nur
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