Nicht ganz schlechte Menschen
bedeuten,
dachten viele, daß Hitler auf einen Angriff im Westen vorerst verzichten und
sich gen Osten, gegen Polen und die Sowjetunion wenden wollte. Das war ja auch,
aus seiner Perspektive, der logischere Feind.
Neue Hoffnung entstand, auf eine gewisse Schonzeit vom
Krieg.
Das Silvesterfest fiel dennoch melancholisch aus, obgleich
man sich alle Mühe gab, die üblichen Pariser Lebensgefühle zu beschwören und
irgendwann gemeinschaftlich betrunken zu werden. Man sah sich zu viert ein in
der Rue de Beaujoulaise stattfindendes Lach-Programm aus bewährten Sketchen an
und jagte um Mitternacht Feuerwerkskörper in den Himmel. Aber alles wirkte
bereits wie eine Wiederholung, eine Wiederhervorholung von etwas, das ein Fund
auf dem Weg gewesen war und nun nicht mehr dieselbe Freude, dieselbe
Überraschung bereiten konnte. Hinzu kam, daß die Beziehung zwischen Ellie und
Pierre neue Risse zeigte und beide nicht in der Laune waren, nach- geschweige
denn klein beizugeben.
Ellie, die sich eine Zeitlang zwischen zwei Männern recht wohl
gefühlt hatte, empfand die heimliche Ménage à trois als zunehmend lästig und
bedrückend. Max hielt sich klug zurück, forderte nie etwas von ihr und schürte
dadurch nur Ellies Sucht nach Vertrautheit. Er war der einzige Mensch, der so
gut wie alles über sie wußte, mit dem sie über so gut wie alles reden konnte.
Und der rein körperlich um einiges begehrenswerter war als Pierre, der sich in
den letzten Monaten einen Speckgürtel angefressen hatte, sich unregelmäßig
rasierte und oft nach den Zigarren roch, die man als Besucher von Boxkämpfen
anscheinend rauchen mußte. Auch ließ er seinen Flatulenzen in ihrer Gegenwart
freien Lauf, gab gar mit deren Dauer und Lautstärke an. Wenn sie sich darüber
beschwerte, hielt er ihr entgegen, daß es in der Ehe keinen Grund gebe, geben
dürfe, sich etwas so Befreiendes zu verkneifen. Sie sei, warf er ihr vor,
kleinlich und streitsüchtig geworden. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätte
sich diesem Edelnazi Edüaar, den sie so toll fand, in Gottes Namen einmal hingegeben,
statt nun ständig ihn, Pierre, dafür verantwortlich zu machen, daß ein
verwirrter Pubertierender jenen Edüaar abgeknallt habe.
Das war nicht annähernd der Tonfall, mit dem man Ellie gewinnen
konnte. Immer öfter übernachtete sie bei Max. Doch was sie bei ihm als kluge
Zurückhaltung diagnostizierte, entsprach in Wahrheit schöpferischer Euphorie,
die neben sich nichts anderes mehr für wichtig hielt. Ellie sah ihm im Bett
liegend zu, wie er am Tisch saß, dünne, selbstgedrehte Zigarettten rauchte und
schrieb, war stolz auf ihn und schlief dabei ein. Eher selten erwachte sie und
fühlte seinen Körper auf ihrem, wenn er schnell zum Ziel kam und sich leise
stöhnend von ihr abrollte.
Pierre, obschon er ansonsten liberal dachte, glaubte noch daran, daß
sich in der Ehe die Frau dem Mann unterordnen müsse. Jedenfalls dort, wo durch
ein vernünftiges Gespräch kein Übereinkommen zu erzielen war. So war es
allgemein Ansicht, so stand es sogar im Gesetzbuch, und er hatte Angst vor dem
Gerede der Leute, das ihn einen Pantoffelhelden nennen würde, sollte er Ellies
Eigensinn nicht brechen. Statt dessen entglitt sie ihm zusehends, und zum
ersten Mal fragte er sich, ob er nötigenfalls Gewalt anwenden müsse, um die
Widerspenstige zu zähmen. Daß sie mit ihrem Halbruder Max so oft in einem
Zimmer schlief, nahm Pierre weniger ihr krumm als vielmehr Max, von dem er
erwartet hätte, daß er Ellie zur Versöhnung oder zu Zugeständnissen aufrufen
würde, statt ihr so gedankenlos Obdach zu geben. Er unterhielt sich darüber mit
Karl, seinem besten Freund. Von Mann zu Mann.
Karl hätte später nicht begründen können, warum er sagte, was er
sagte. Es sei ihm wider Willen aus dem Mund gefallen, hätte er vor einem
Gericht behauptet. Er habe sich produzieren wollen, auch sei der Umstand,
selbst kein Mädchen zu besitzen, nicht zu unterschätzen gewesen. Wie auch
immer. Pierre erfuhr, daß zwischen Max und Ellie stets eine innige
Verbundenheit geherrscht habe, über die übliche Geschwisterliebe hinaus. Karl
drückte sich dabei kryptisch aus, um hinterher behaupten zu können, womöglich
falsch verstanden worden zu sein. Was aus ihm sprach, war Eifersucht auf den
eigenen Bruder, samt einer fast kindischen Lust, Funken zu streuen im Heu. Stunden später tat es ihm schon
leid, und er bemühte sich darum, seine Aussage zu relativieren. Auch riet er
Pierre dazu, in keinem Fall grob
Weitere Kostenlose Bücher