Nicht ganz schlechte Menschen
schon wie ein besoffener Zanoussi, meinte Max. Willst du
sagen, die Toten sind ein wenig früher gestorben als für sie vorgesehen, aber
für einen guten Zweck?
Die Frage konnte und wollte Karl nicht beantworten. Das hänge von
der Zukunft ab, auf die er wenig, leider viel zu wenig, Einfluß habe.
Max schüttelte den Kopf und warf seinem Bruder vor, sich die Sache
auf zynische Weise schönzudenken. Max, das war das Sonderbare dabei, machte
sich keine Illusionen darüber, daß Hitler einen Krieg vorbereitete, während
alle anderen noch auf den Frieden hofften. Aber gerade weil er Hitler in seinem
Innersten auf gewisse Weise bewunderte oder, wenn das Wort bewundern zu stark klang,
ihn als außerordentliches
Phänomen respektierte und ihm eine, wenn auch verquere,
diabolische, Intelligenz zumaß, hielt er es für absurd, daß Hunderttausenden
von im Reich verbliebenen Juden ernsthafte Gefahr für Leib und Leben drohte.
Natürlich würde es immer mal Ausschreitungen geben, das sei nicht zu
verhindern. Aber ein organisierter Terror – damit würde Hitler sich etlicher
Ressourcen der Intelligenz, Finanz- und Arbeitskraft berauben und die mächtige,
von Juden gesteuerte USA gegen sich aufbringen – so
dumm könne niemand sein.
Ellie hörte und stimmte Max sogar zu. Was er sagte, klang
einleuchtend. Hitler als primitiven Geisteskranken zu diskreditieren, damit
hatten es sich dessen Gegner zu lange zu einfach gemacht. Hinzu kam, daß Eduard
ein attraktiver und sympathischer Mensch gewesen war, der solch ein Ende nicht
verdiente. Max und Karl entgegneten, hierin ausnahmsweise einig, daß dieser
Gesichtspunkt im entstandenden Drama nun die allergeringste Rolle spielte.
Dr.
Joseph Goebbels war überzeugt, daß es sich nicht um die Tat eines einzelnen
Minderjährigen gehandelt habe, sondern daß Herschel Grynszpan Hintermänner und
Auftraggeber gehabt haben mußte. Incognito-Agenten der Gestapo waren bereits in
Paris zugange und durchleuchteten das Umfeld des Attentäters, kamen dabei aber
nicht recht vorwärts, weil ihnen nicht einfiel, sich bei den richtigen Stellen
nach Herschels sexueller Orientierung zu erkundigen.
Ernst
Eduard vom Rath wurde am 17. November 1938 in Düsseldorf, in Anwesenheit des
Führers, mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt. Ausnahmslos alle deutschen
Sender übertrugen die einstündige Trauerfeier.
Juden
wurde im Lauf des Monats verboten, Waffen oder militärische Uniformen zu
tragen, deutsche Schulen und Hochschulen, Theater, Kinos, Konzerte oder
Varietés zu besuchen. Außerdem wurde ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt
und ihnen die Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge entzogen. Als Sühne für die
Ermordung Ernst Eduard vom Raths und zur Kostendeckung der durch die
Ausschreitungen des 9. November entstandenen Sachschäden wurde den jüdischen
Gemeinden ein Bußgeld von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Zahlbar von
vermögenden Juden als zwanzigprozentige Vermögensabgabe in vier Raten.
Dr.
Joseph Goebbels erwähnte in einer Rede erstmalig, daß die NSDAP dazu stehe,
eine antisemitische Bewegung zu sein. Was in der Welt mit großem Erstaunen
registriert wurde.
André
Gide, der künftige Literaturnobelpreisträger, schrieb in sein Tagebuch, daß
Herschel und Eduard ein Paar gewesen seien und vor vielen Augenzeugen
miteinander getanzt hätten; es sei ihm ein Rätsel, warum sich die Presse nicht
auf diese Geschichte stürze.
Es dauerte Wochen, bis sich die Lage einigermaßen beruhigt
hatte und die Schockstarre abfiel von allen, die sich durch den Mord in etwas
hineingezogen fühlten, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. In Spanien
deutete sich eine weitere Katastrophe an. Die Ebro-Schlacht endete am 26. November mit einem Debakel für die republikanischen Kräfte. Acht Tage vor
Jahresende konzentrierte Franco seine Truppen für eine Invasion Kataloniens.
Dies würde der endgültige Todesstoß gegen die Freiheit sein, nichts und niemand
schien den Faschismus aufhalten zu können.
Selbst Karl, als ideologisch gefestigter Mensch, grübelte über dem
Gedanken, daß er womöglich in einer Ära lebte, die am Ende dem Feind gehören
würde. So barbarisch jener auch daherkam, war ihm eine gewisse Energie und
Imposanz nicht abzusprechen. Mit blankem Neid dachte er sich in den politischen
Gegner hinein. Für Reaktionäre und deren Sympathisanten mußte diese Zeit einem
fulminanten Triumphmarsch gleichen. Kein Wunder, daß so viele bislang
unentschlossene Menschen dem Rausch verfielen
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