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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Mal.
    Ellie verließ das Zimmer und übernachtete bei Max. Der lieber
schrieb, rauchte und trank, als sie anzufassen. Obwohl sie das neue seidene
Negligé trug, das sie im Samaritaine für teuer Geld erstanden hatte. Es ist
soweit, dachte Ellie. Ich bin alt.
    Am
3. November 1938 erhielt Heinrich eine Postkarte seiner Schwester, die ihn über
die Vertreibung seiner Familie und deren Internierung in Zbaszyn unterrichtete.
Er malte sich die Bedingungen dort in den finstersten Farben aus.
    Am
7. November 1938, um acht Uhr dreißig morgens, kaufte Heinrich Halter im
Waffengeschäft
A la fine lame
(Zur scharfen Klinge) einen sechsschüssigen
Revolver samt Munition. Mit 245 Francs, seinem letzten Geld. Auf der Toilette
des einschlägigen Homosexuellenlokals
Tout va bien
(Alles geht gut) lud er den
Revolver und fuhr mit der Metro zur Station Solferino. Von dort begab er sich
zur deutschen Botschaft, wobei ihm auf der Straße Graf von Welczeck
entgegenkam, der höchste nationalsozialistische Repräsentant auf französischem
Boden. Halter aber ignorierte oder übersah den Würdenträger, betrat die
Botschaft und verlangte ausdrücklich einen Legationssekretär zu sprechen. Ernst
Eduard vom Rath erkannte ihn und bat Heinrich, unter Umgehung aller dafür
vorgesehenen Formalien, in sein Büro. Dort feuerte Heinrich fünf Schüsse auf
ihn ab. Zwei davon trafen Eduard in Magen und Unterleib. Der Junge ließ sich
danach widerstandslos festnehmen. Schwer verletzt wurde Ernst Eduard vom Rath
ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte entfernten ihm die Milz und äußerten sich
optimistisch. Herschel Grynszpan, so lautete Heinrich Halters wirklicher Name,
gab in ersten Verhören an, er habe mit seiner Tat auf die prekäre Lage der
Juden in Deutschland aufmerksam machen wollen.
    Im Monbijou erfuhr man die Neuigkeit am
nächsten Tag aus der Zeitung. Niemand aus der Hotelleitung reagierte mit
besonderer Teilnahme darauf. Daß es sich bei Ernst vom Rath um Edüaar handeln könnte, in der Szene auch L’ambassadrice genannt, lag nicht eben nahe. Ein Herschel Grynszpan war niemandem ein Begriff. Der deutsche
Botschaftsangestellte würde zudem, so hieß es, wahrscheinlich überleben, wenn
auch sein Zustand besorgniserregend sei.
    Ernst
    Eduard vom Rath wurde auf dem Krankenbett durch Hitler zum
Gesandtschaftsrat
     erster Klasse
befördert, ein Karrieresprung von drei Stationen. Dennoch starb
er aufgrund einer Kreislaufschwäche am 9. November gegen 16.30 Uhr.
Ministerpräsident Daladier drückte der deutschen Führung seine wärmste Anteilnahme
aus. Der Attentäter, so schrieben die Zeitungen, mache einen durchaus klaren
Eindruck, sei eher ein Fanatiker als ein Verrückter. Endlich erschienen in den
Boulevardblättern Photos von Täter und Opfer.
    Ellie schrie auf, als sie die beiden erkannte. Pierre
wurde blaß und stammelte, er habe immer gewußt, daß dieses Bürschchen Ärger
machen würde. Die nächste Sonntagssoirée wurde prompt abgesagt, denn
selbstverständlich würde die Polizei – und wer weiß, wer noch – alle Lokale und
Festivitäten, die der irrsinnige Knabe in letzter Zeit aufgesucht hatte, unter
die Lupe nehmen.
    In
Berlin wurde das Attentat als Angriff des Weltjudentums auf Deutschland
gewertet. Hitler erfuhr die Nachricht vom Tode vom Raths beim alljährlichen
Treffen der alten Kameraden zum Jahrestag des Marsches auf die Feldherrenhalle.
Er besprach das Ereignis eindringlich mit Reichspropagandaminister Dr. Joseph
Goebbels, der anschließend, gegen 22.00 Uhr, die versammelten Partei- und
SA-Führer vom Geschehen in Kenntnis setzte. Er lobte bereits geschehene,
angeblich spontane judenfeindliche Aktionen und äußerte, daß die Partei nicht
als deren Organisator in Erscheinung treten wolle, diese aber dort, wo sie
entstünden, auch nicht behindern werde.
    Die
SA, danach die Polizei und die SS, verstanden das als indirekte, aber
unmißverständliche Aufforderung zum Initiieren und Organisieren von Aktionen,
die eigentlich der
kochenden Volksseele
zugeschrieben wurden. In der Nacht zum
    10. November, die später als
Reichskristallnacht
bezeichnet wurde, brannten
fast sämtliche Synagogen in Deutschland. Menschen wurden mißhandelt,
schikaniert, gedemütigt, aus ihren Häusern vertrieben, Geschäfte wie auch
Wohnzimmer wurden geplündert, Frauen vergewaltigt, ungefähr vierhundert Juden
verloren ihr Leben, Zigtausende ihre Existenzgrundlage. Die Pogrome setzten
sich am 10. November fort. In Österreich, wo sie erst an

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