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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Kleinlaut gestand er seiner Klientel, daß die Lage sich stark,
ja grundlegend verändert habe, durch eine nicht vorhersehbare Aussage Blanche Chapelles.
Zugleich, das wirkte noch furchterregender, forderte er eine Vorauszahlung auf
sein Honorar in Höhe von zehntausend Francs.
    Ellie besuchte Pierre, brachte ihm selbstgebackenen, bröseligen
Kuchen und ließ sich von ihm eine Kontovollmacht geben. Er müsse sich keine
Sorgen machen, sagte sie und spürte dabei doch den Stachel der Lüge in ihrer
Kehle.
    Perec hatte Blanche nach allen Regeln der Verhörkunst zugesetzt. Bis
sie zuletzt nicht mehr wußte, wo ihr der Kopf stand. Sie war doch ein recht
schlichtes Herz und leicht zu manipulieren. Perec tat, als sei Pierres
Schicksal bereits entschieden. Nur ihre, Blanches Rolle, bleibe zu diskutieren
übrig. Sie könne, als Mitwisserin,
die aktive Beihilfe zum Mord an ihrem Gatten geleistet habe, auf dem Schafott
landen, viel wahrscheinlicher hingegen wäre eine lebenslange oder
zwanzigjährige Zuchthausstrafe. Perec gab sich zwischendurch leutselig und
nüchtern. Und bot Blanche eine Vereinbarung an, die er ihr nur unter der Hand,
nicht offiziell, anbieten könne. Sie gehe straffrei aus, würde sie gestehen,
daß Pierre Geising ihr Liebhaber gewesen sei.
    Blanche mochte an soviel Entgegenkommen kaum glauben. Die eine Nacht
in der Zelle hatte sie bereits zermürbt.
    Danach bin ich frei und mir geschieht nichts Böses?
    Das genau, flüsterte Perec ihr ins Ohr, sei der Fall.
    Ja dann. Klar. Pierre Geising war mein Liebhaber, von ihm stammte
das Kind in meinem Bauch. Möchten Sie es so?
    Vortrefflich. Kommentierte Perec.
    Und das ist dann ganz sicher keine Falschaussage? Und einen Eid darauf
schwören kann ich auch? Ohne etwas befürchten zu müssen?
    Perec ging das Gerede dieser Ziege auf die Nerven.
    Madame Chapelle – kurz und bündig: Wir leben in einem Land, in dem
die Wahrheit nicht bestraft wird.
    Gut. Man wird ja nochmal fragen dürfen. Blanche nickte und
unterschrieb.
    Jene Aussage wirkte auf Ellie überraschend, auf Karl
niederschmetternd. Nur Max, ausgerechnet er, für den zuvor Pierres Unschuld
keine unbezweifelbare Tatsache gewesen war, nahm an, daß es sich um eine Lüge
aus Bequemlichkeit handeln könne. Oder um eine mit Foltermethoden abgepreßte
Diffamierung. Fest stand, daß bis zu einem Prozeß mehrere Monate vergehen
konnten, falls kein Wunder geschah. Man mußte sich damit abfinden und
arrangieren. Am 20. Mai kam es zu einem folgenreichen Gespräch zwischen Ellie
und Max, als die beiden noch einmal alles unter die Lupe nahmen, was ein
Staatsanwalt im Prozeß eventuell ins Feld führen würde.
    Pierre behauptet steif und fest, er habe nie irgendein Foto
zerschnitten und in seine Büroschublade gelegt.
    Womit er, murmelte Max, wahrscheinlich auch recht hat. Das war ich.
    Du?
    Max hatte nach dem Verschwinden Xaviers die linke Hälfte des
Hochzeitsfotos abgeschnitten, damit die Gendarmerie einen Anhaltspunkt für sein
Aussehen besaß. Ein anderes Foto hatte sich nicht gefunden, und dieses war
sicher auch das aktuellste gewesen.
    Das, ereiferte sich Ellie, müssen wir Amirault und Perec
sofort erzählen.
    Ja. Müssen wir. Klar. Sollten wir auch. Vielleicht nicht sofort.
    Wie? Was meinst du?
    Damit allein bekommen wir Pierre nicht aus
der U -Haft, solange Blanche nicht widerruft. Das
heben wir uns für einen späteren Zeitpunkt auf. Wir sollten statt dessen mal
überlegen, worin das Positive liegt, in dieser
Situation, in dieser besonderen Situation. Für uns.
    Warum betonst du so seltsam?
    Ellie, eine entscheidende Frage möchte ich dir stellen.
    Ja?
    Liebst du mich noch?
    Selbstverständlich.
    Wir haben demnach eine Baustelle zusammen?
    Äh – ?
    Eine Zukunft.
    Natürlich.
    Dann wird alles gut.
    Auf
der Soso am 28. Mai sollte Joseph Roth aus seinem Leviathan vorlesen, der Geschichte
eines jüdischen Korallenhändlers, der, vom Teufel versucht, fortan gefälschte
Korallen verkauft, bis er, vom schlechten Gewissen geplagt, nach Kanada
auswandern will und Schiffbruch erleidet, im Meer versinkt, hinab zu den echten
Korallen, die das Seeungeheuer Leviathan bis zu dem Tag aufbewahrt, da der
Messias zurückkehrt. Eine krude, tiefgründige Parabel. Max verstand die
Erzählung als Selbstanklage eines undisziplinierten Talents. Am 27. Mai, im
Alter von nur 44 Jahren, starb Joseph Roth an einer Lungenentzündung.
Die Soso fiel ersatzlos aus.
    Max war nicht sonderlich abergläubisch. Aber wenn man das nicht als

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