Nicht ganz schlechte Menschen
Omen begreifen sollte, was dann? Die große Macht im All – so
nannte er seine Variante der virtuellen Religiosität, die Gottheiten nur wie
Nutztiere duldete, als Seelenbalsam – hatte offenbar beschlossen, daß die Zeit
der Sosos vorbei war. Neue Ziele leuchteten am Horizont. Die Zeichen standen
auf Aufbruch und Weltenwechsel. Nachts besprach er mit Ellie, was zu tun war.
Sie erschrak zutiefst und sträubte sich erst. Max redete viel vom
Sein an sich, das immer mit dem Um-Sein in fataler Wechselwirkung stehe.
Manchmal seien große Entschlüsse nötig, man müsse sich stets die Fähigkeit
bewahren, über den eigenen Schatten zu springen, ins Neue hinein. Laß uns nach
Amerika gehen. Jetzt. Wir haben die Möglichkeit dazu. Andere haben sie nicht.
Ellie reagierte mit Kleinmut auf den großen Entwurf, der ihr da
unter die Nase gehalten wurde. Wenn ihr auch das Ganze als Gedanke und Option
nicht unsympathisch war, sah sie doch partout die Dringlichkeit nicht ein, aus
der Laune des Moments heraus eine solch folgenschwere Entscheidung zu treffen.
Zumal es zu beachtende Loyalitäten gab. Vielleicht liebte sie Pierre nicht mehr,
oder hatte ihn nie geliebt. Aber ihn jetzt so einfach, so skrupellos, mit
diesem leicht entflammbaren Kontinent allein zu lassen, während er auch noch im
Gefängnis saß, das widerstrebte Ellies Gefühlen zutiefst.
Max sah ein, zu früh zuviel auf die Tagesordnung gesetzt zu haben.
Selbstverständlich würden sie erst fahren, wenn Pierre aus der Haft entlassen
sei. Und niemand habe vor, ihm sein Geld zu stehlen. Also, nicht das ganze. Nur
die eine Hälfte, die dir zusteht. Bei einer Scheidung. Durch seine Affäre mit
Blanche wäre Pierre die schuldige Partei. Wir könnten nach Amerika mit über
zweihunderttausend Francs. Wir hätten alle Optionen. Und Pierre auch wieder. Du
willst doch mit mir alt werden, oder?
Ich bin längst alt, du ungezogener Junge.
Die USA ließen nur ein kleines
Kontingent von Immigranten ins Land. Die drei würden es einfach machen wie
schon einmal zuvor, nämlich als Touristen einreisen. Der Rest würde sich
irgendwie finden. Eine Schiffspassage dritter Klasse kostete etwa 130 Dollar,
umgerechnet 6000 Francs.
Über Wochen ließ Ellie den Gedanken nicht recht an sich heran.
Obwohl er im Grunde logisch und gar nicht so kaltherzig war. Ihre Ehe mit
Pierre war am Ende, bestand nur noch aus Freundschaft. Eine Trennung, eine
Scheidung schien unausweichlich, unvermeidlich, ob früher oder später, was
spielte das für eine Rolle? Und ja, Pierre würde schuldig geschieden werden,
immerhin war er mit einer unerotischen Frau fremdgegangen, dafür gab es keine
Entschuldigung. Der Verlust seines halben Vermögens würde ihm kaum weh tun, er
besaß danach noch genug an Barem. Und eine Wohnung. Eine Villa im Süden. Und
ein Hotel. Während sie und Max und Karl die Chance bekämen, in einem
unbedrohten, freien Land etwas ganz Neues und Eigenes aufzubauen. Sie würde Max
heiraten. Oder vielleicht auch nicht. Er war ja nun ihr Halbbruder, vor dem
Gesetz. Würde man in Amerika pingelig sein?
Manchmal schien es ihr, als hätte Max von Anfang an auf diese
Situation gehofft oder gar hingearbeitet. Aber das war natürlich nicht möglich,
dazu hätte er hellseherische Fähigkeiten haben müssen. Er schwärmte bei Tisch
oft über New York, das er nur von Fotos aus einem Bildband her kannte. Und
betonte bei jeder Gelegenheit die Patina, die auf Paris liege, einer Stadt,
deren Legende ständig schrumpfe, die bald morbid und moribund sein würde, quasi
dem Untergang geweiht.
Das bin ich auch, kommentierte Ellie sarkastisch. Sie würde im
nächsten Jahr vierzig sein. Wenn sie noch einmal ein Abenteuer wagen wollte,
dann besser, solange sie noch halbwegs nach etwas aussah. Mitte Juni erklärte
Ellie Max in einem der so selten gewordenen Beischlafnachgespräche, daß sie
grundsätzlich bereit sei für Amerika. Unter zwei Voraussetzungen: Pierre müsse
sich in Freiheit befinden und mit der Trennung einverstanden sein.
Max nickte. Das ließe sich machen.
Karl, als er in den Plan eingeweiht wurde, hatte nichts gegen New
York an sich, wollte den Ozean aber lieber etwas später überqueren, wenn sein
Studium in zwei Jahren beendet wäre. Max hob enerviert die Augenbrauen. In zwei
Jahren würde Hitler vermutlich schon über die Boulevards flanieren.
Was schwallst du für einen Stinkekäse? Wenn du Ellie angst machen
willst mit deiner latenten Hitler-Verehrung, bitte. Bei mir wirst du
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