Nicht ganz schlechte Menschen
kläglich
scheitern damit!
Ich möchte übermorgen abend nach Versailles fahren, unterbrach Ellie
die beiden Streithähne. Begleitet ihr mich?
Die drei saßen am Quai d’Orsay, ließen sich von der Sonne bräunen,
sahen aufs Wasser und aßen Schinkenbaguettes.
Wozu nach Versailles, fragten unisono die Brüder, und warum
ausgerechnet abends?
Ich habe, schlau wie ich bin, ein Zimmer gemietet, von dem aus man
beste Sicht hat.
Die Loewe-Brüder verstanden nur Bahnhof. Beste Sicht ? Worauf?
Wenn Eugen Weidmanns Kopf und der Rest seines Körpers sich
voneinander trennen müssen. Lest ihr Dummen keine Zeitung?
Karl und Max sahen erst einander an, dann versuchten sie in Ellies
Gesicht Spuren eines Scherzes zu entdecken.
Du willst dir die Hinrichtung ansehen?
Ja. Warum nicht?
Die Frage muß eher lauten: Warum ?
Ich habe so etwas noch nie gesehen.
Das war ein simples Argument. Die Brüder sahen einander erneut an.
Sie wurden von einer Seite Ellies überrumpelt, von der sie nicht gleich wußten,
wie sie sie einschätzen und beurteilen sollten.
Karl entschied sich als erster. So ein mittelalterlich grausames
Spektakel mit seinem Interesse und seiner persönlichen Anwesenheit praktisch
gutzuheißen, käme für ihn niemals in Frage. Max dachte nach und fand, daß es
für einen Schriftsteller gute Gründe gab, einmal im Leben einem solchen
Ereignis beizuwohnen, denn es handele sich bestimmt um ein elementares Erlebnis . Ja,
er sei dabei, ließ er knapp verlauten. Wenngleich ihm nicht so ganz klar war,
welchen Sinn oder Erfahrungswert Ellie dem Ganzen abgewinnen wollte. Sie mußte
sich von ihm noch einige argwöhnische Blicke gefallen lassen. Karl schüttelte
heftig den Kopf, hielt sich mit verschränkten Armen an den eigenen Schultern
fest, als schauderte es ihn. Ein paar Stunden später meinte er dann, eine
politisch verantwortungsvolle Begründung seiner Präsenz vor Ort wäre allenfalls
gegeben, wenn er als Demonstrant mit einem Transparent antrete, das gegen die
Todesstrafe protestiere. Er überlege noch.
Zuletzt, am 16. Juni abends gegen sieben Uhr, einem Freitag, brachen
sie zu dritt auf. Versailles war vom Gare des Invalides aus in nur zwanzig
Minuten Fahrzeit zu erreichen. Die Züge waren überfüllt, obwohl ein
Zehn-Minuten-Takt eingerichtet worden war. Es herrschte eine Stimmung, als
würden Fußballfans zum Auswärtsspiel ihrer Mannschaft aufbrechen, nur daß die
Wimpel, die Fahnen und Vereinsgesänge fehlten. Keiner der Fahrgäste gab dabei
den leisesten Hinweis darauf, wohin und weswegen er unterwegs war. Dennoch
entstand – Max suchte erfolglos zu ergründen, wodurch – das Bild eines
gemeinschaftlichen Ausflugs mit hochgesteckten Erwartungen. Auch Karl hätte
nicht benennen können, in welchen Details es sich etwa von der allabendlichen
Heimkehr der Werktätigen in die billigen Wohngebiete der Peripherie
unterschied. Den Unterschied nahm allenfalls Ellie wahr. Viele weibliche
Fahrgäste trugen Feiertagskleidung, und wo sie üblicherweise ermattet und
gleichgültig aus dem Fenster oder vor sich hin gestarrt hätten, schien ein
Fieber von ihnen Besitz ergriffen zu haben. In ihren Augen war Leben.
Der Zug hielt an seinem Ziel. Ein weiterer Unterschied wurde
deutlich. Die Leute drängten so rücksichtslos ins Freie, als würden in den
Abteilen Schwelbrände wüten. Dabei hatten sie es alle nicht weit. Seufzer
wurden laut. Wer bis dahin von sich annahm, er habe sich früh, gar viel zu früh
in Marsch gesetzt, sah sich nun herb enttäuscht. Eine riesige Menschenmenge
sammelte sich vor dem Saint-Pierre-Gefängnis, das vom Bahnhof aus in ein, zwei
Minuten fußläufig zu erreichen war.
Aufgrund einer Sondererlaubnis des Magistrats durften in dieser
Nacht alle Cafés und Restaurants in Versailles durchgehend geöffnet haben.
Bauchladenverkäufer machten gute Geschäfte mit Wein, Eis und Limonaden. Auch
Klappstühle wurden feilgeboten, das Stück für zwanzig Francs.
Ellie zeigte auf ein Haus, das dem Gefängnisvorhof schräg
gegenüberlag. Sie hatte dort beizeiten eine Kammer im dritten Stock gemietet,
für dreihundert Francs. Das ältere Ehepaar, dem das Haus gehörte, war erst sehr
zufrieden gewesen, die dumme Deutsche derart übervorteilt zu haben, danach überwog
der Ärger, weil andere Schaulustige noch viel mehr geboten hatten. Die Kammer
beherbergte zwei schmale Betten, einen Tisch und vier Stühle. Auf dem Tisch
fanden sich die bestellten Stärkungen, drei Flaschen Wein, ein großer Laib
Brot,
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