Nicht ganz schlechte Menschen
wollten zu
viele Trittbrettfahrer Parteimitglied werden, der Nimbus des exklusiven Clubs
schien gefährdet, und Max war zudem Waise, ein nicht volljähriges Mündel. Weder
dem Bruder noch irgendjemandem sonst erzählte er vom Antrag und von der
erlittenen Abfuhr.
Das antisemitische Programm der Nazis, zuvor von vielen
als Gerede abgetan, begann die Gesellschaft zu verändern.
Jüdische Entscheidungsträger, namentlich und zuallererst Richter,
wurden durch arische und linientreue Beamte ersetzt, und während die Juden bald
in tiefer Angst lebten, schwelgte das Gros des deutschen Volkes in einer Art
von diffuser Aufbruchsstimmung. Etliche ausländische Zaungäste, die mit dem
neuen Regime nichts zu schaffen, aber von ihm auch nichts direkt zu befürchten
hatten, beschrieben jene Monate nicht etwa nur als bedrückend, sondern auch und
vor allem als auf eigenartige Weise elektrisierend, schon allein, weil fast
jeder Tag etwas Unvorhersehbares brachte.
Allen ›Volksgenossen‹ wurde der Gebrauch des Hitlergrußes
empfohlen, sofern man nicht in den Verdacht geraten wollte, durch
Nicht-Gebrauch das neue System abzulehnen. Es gab anfangs noch Zeitungen, denen
leidlich zu trauen war (kein Mensch wird je wissen, welcher Mut sich hier
hervortat), während die meisten in vorauseilendem Gehorsam das Regime
hofierten. Gerüchte kursierten, von zu Tode geprügelten Kommunisten und Sozialdemokraten,
aber nur hinter vorgehaltener Hand, denn Greuelmärchen zu
verbreiten stand bereits unter schwerer Strafe.
Im
Juni, während der später so genannten ›Köpenicker Blutwoche‹, kam es zu
etlichen Morden der SA an hochrangigen linken Politikern. Diese Verbrechen
konnten nicht so leicht unter den Teppich gekehrt werden, also wurde darüber
wie über militärische Gefechte berichtet. Einige der Verfolgten suchten Schutz
bei der immer noch neutralen Polizei, die sich daraufhin eine Machtprobe mit SA-Männern
lieferte, aber aufgrund deren zahlenmäßiger Überlegenheit nicht viel ausrichten
konnte. Anton Schmaus, der Sohn eines danach im eigenen Hause erhängten
SPD-Abgeordneten, erschoß drei Angreifer, bevor er selbst, schon in
Polizeigewahrsam, eine Schußverletzung im Rückenmark erlitt, der er später
erlag. Die toten Braunhemden wurden zu Märtyrern der Bewegung erklärt, die im
Kampf gegen wild um sich schießende, amoklaufende Staatsfeinde gefallen seien.
Der politisch unauffällige Bürger nichtjüdischer Abstammung
schien vorderhand wenig befürchten zu müssen. Der Glaube vieler Juden und
Antifaschisten, der totalitäre Spuk werde mehrheitlich als repressiv empfunden,
sei ein schnell verderbliches Phänomen und werde schon bald an sich selbst
zugrunde gehen, zielte arg an der Realität vorbei. Viele hielten es mit der
simplen Phrase, daß, wo gehobelt werde, Späne fielen. Gebildetere Menschen
sprachen vom Weimarer
Augiasstall , der mit der groben Bürste gereinigt werden müsse.
Sogar auf das mitunter deprimierende Straßenbild hatte die braune Revolte eine
unmittelbare Wirkung. Im Oktober bereits wurde Berlin zur »Stadt ohne Bettler«
deklariert. Tausende Obdachlose waren in Lager verfrachtet worden.
Der Nationalsozialismus erlebte einen von weiten Teilen der
Bevölkerung begeistert getragenen Siegeszug. Bei der Volksabstimmung vom 12. November erreichten die Nazis 93 Prozent Ja-Stimmen, wenn auch nach einer
gigantischen und einschüchternden Propagandakampagne. Zwar waren einige
Auszählungen manipuliert, und Angst spielte eine gewisse Rolle, denn beinahe
niemand glaubte an die Wahrung des Wahlgeheimisses, doch selbst das Ausland
zeigte sich beeindruckt, welchen Rückhalt Hitler in der Bevölkerung bereits
genoß. Karl und Max Loewe wagten es mit Nein (Karl) zu stimmen
bzw. einen leeren Zettel (Max) abzugeben, doch die erwarteten Repressalien
blieben aus.
Die
höchste Zahl an Nein-Stimmen wurde nicht in Berlin, sondern in Hamburg
erreicht, mit stattlichen 21,5 Prozent. Die Publikmachung dieses Rekords
verwirrte viele Regime-Gegner, deren Wahlfälschungsthesen damit der Wind aus
den Segeln genommen wurde.
Im Dezember ’33 kam es zum Prozeß gegen den angeblichen
Brandstifter Marinus Van der Lubbe und vier seiner angeblichen Hintermänner,
allesamt hohe kommunistische Funktionäre.
Auf Brandstiftung stand bis dahin zwar, sofern keine Menschen zu
Schaden gekommen waren, nur eine Freiheits-, nicht die Todesstrafe, diese wurde
aber in einer Lex
Van der Lubbe rückwirkend verhängt, ein Justizskandal
ohnegleichen. Die
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