Nicht ganz schlechte Menschen
vier kommunistischen Funktionäre hingegen wurden aus Mangel
an Beweisen freigesprochen. Viele sahen darin ein Anzeichen, daß der
Justizapparat noch nicht völlig gleichgeschaltet war.
Karl und Max verstanden den Freispruch als geschickte
Taktik, um dem Ausland vorzugaukeln, daß Deutschland weiterhin ein Rechtsstaat
sei, und politisch gefärbte Prozesse nicht unbedingt Schauprozesse mit
festgelegtem Ausgang sein mußten.
Während Max nach einiger Zeit die politischen Ereignisse
vor sich auszublenden begann, wie etwas zu Lästiges, und viel eher bestrebt
war, eine sexuelle Identität für sich zu finden, forschte Karl die
Möglichkeiten aus, Deutschland doch noch zum Kommunismus zu bekehren.
Eigentlich, fand er, seien die Voraussetzungen dafür ja nie besser gewesen als
gegen Ende des letzten Jahres. Er konnte einfach nicht begreifen, warum
vorging, was vorging. Karl hätte so genau gewußt, was im Fall der Fälle zu tun
gewesen wäre, welche Gebäude man besetzen, von welchen Positionen man Druck
ausüben müßte etc. Er hatte ein Szenario erarbeitet, das, ein
Nichtvorhandensein der Nazis vorausgesetzt, vielleicht funktioniert hätte. Im
Grunde spielte er wie ein Kind mit Blechsoldaten nach, was in Deutschland
geschehen war, nur unter anderen Vorzeichen. Sein Leben lang blieb er der
Überzeugung, daß im Januar 1933 auch eine rote Revolution möglich gewesen wäre,
hätte die Linke nur über die Stimmenmehrheit sowie über einen charismatischen
Anführer wie Stalin verfügt. Und stets dachte er an Lenins wuchtige Worte: Wer Berlin hat, hat
Deutschland. Und wer Deutschland hat, hat Europa. (…) Das wichtigste Glied in
der Kette der Weltrevolution ist Deutschland, und von der deutschen Revolution
hängt der Erfolg der Weltrevolution ab.
Wie konnte es nun weitergehen?
Nach einem Jahr, in dem beide keinen Gedanken an die vom
Vater gewünschte Diplomatenlaufbahn verschwendet hatten, schrieben sich die
Loewe-Brüder an der Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Während Max sich für
Philosophie und Germanistik entschied, seinem Herzenswunsch gemäß, rang Karl
sich zur Juristenlaufbahn durch. Einen Anwalt, fand er, könne die kommende Zeit
immer gebrauchen, auch wenn ihn die Juristerei mit ihrer bürokratischen,
unpoetischen Sprache und ihren fantasielosen, dabei oft verschwurbelten
Gedankengängen geradezu anwiderte.
Max schlief nicht mehr mit Männern, seitdem Gerüchte die Runde
machten, daß die rege Berliner Homosexuellenszene mit Spitzeln durchsetzt
worden sei, die dem radikal homophoben Polizeichef Heinrich Himmler lange
Listen lieferten. Im Grunde waren Max Frauen sowieso etwas lieber, auch wenn er
den Umgang mit ihnen, was das Triebleben betraf, für kompliziert und
zeitraubend hielt.
Karl lernte ein Mädchen kennen, das zwar nicht ganz dem Ideal
entsprach, dem er zustrebte, die aber als Zwischenlösung nicht zu verachten
war. Ihr Name lautete Marie Dressler, zweiundzwanzig, eine Floristin, die
wundervolle Gestecke entwerfen konnte. Marie sang auch gern, ihr Lieblingslied
war ein Schlager der Tiergarten Boys, mit den Zeilen:
Nichts schöner als ein Maitag
der nebenbei noch Freitag
Am Abend mit der Süßen
am Wannseestrande küssen
weit weg von der Laterne
Wonnemond und Sterne
wär Licht genug für uns …
Und als sie die auf dem Gehsteig vor der Blumenhandlung
geträllert hatte, mit ihrem warmen Sopran, konnte Karl nicht anders, er stellte
sich mutig bis dreist vor die ihm Unbekannte hin und sagte, er nehme die
Einladung an. Zwei Stunden später hatte er ihr Herz erobert.
Marie lebte noch bei ihren Eltern, in der nicht so
bürgerlichen Hälfte des Stadtteils Charlottenburg, konnte sich aber nach zehn
Uhr abends leicht aus der Wohnung schleichen, in der sie eine Kammer mit
separatem Zugang bewohnte. Sie verfügte über typisch berlinischen Mutterwitz,
nahm, wo Karls Schüchternheit versagte, die Dinge gern mal in die Hand, und
einigermaßen hübsch war sie auch, das Gesicht vielleicht weniger, ihre Figur
aber, als Schattenriß ein Ideal, machte etliches wett. Um Politik kümmerte sie
sich nicht, besaß jedoch ein tief ausgeprägtes Gefühl für Recht und Unrecht.
Sie war noch nie zur Wahl gegangen, und wenn, hätte sie eher das Zentrum
gewählt als etwas Extremes. Sie gehörte auch nicht zu jener unerträglichen
Vielzahl von Mädchen, die Hitler als einen schneidigen, gar schmucken oder
genialen Politiker verehrten. Marie Dressler mochte an Karl Loewe dreierlei:
Erstens seine wilden braunen
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