Nicht ganz schlechte Menschen
Locken, die von keinem Friseur dauerhaft zu
bändigen waren (worunter Karl nicht wenig litt, denn er sah von Natur so aus,
wie sich das Klischee einen linken Revoluzzer vorstellte). Zweitens mochte sie
seine fleischigen, weichen Hände, die ihren Hals so gut massieren konnten, und
drittens gefiel ihr, wie er sie pausenlos zu erziehen versuchte, ihr dauernd
etwas erklärte, penetrant und besserwisserisch. Viele Mädchen hätte das
abgestoßen, Marie hingegen fühlte sich dadurch erst wirklich ernstgenommen, und
tatsächlich war Karl jemand, der viel zu sagen hatte, selbst in Augenblicken,
da zu schweigen angemessener gewesen wäre.
Nachdem sie ihn mehrmals nachts, in einem der Parks oder
an einem der Badeseen, an denen sich junge Paare unbeobachtet fühlen konnten,
manuell befriedigt hatte, willigte Marie schließlich in den Beischlaf ein,
unter der Voraussetzung, alsbald eine offizielle Verlobung stattfinden zu
lassen. An diesem Punkt zögerte
Karl. Ganz diverse Empfindungen stritten in ihm. Allein schon Maries Vater –
einen Backmeister in der Märkischen Brotfabrik – um ihre Hand bitten zu müssen,
dieses alberne Ritual, das noch nicht einmal nur formell gewesen wäre, es
drohte ja eine mögliche Ablehnung – die Aussicht darauf schreckte ihn mehr als
der Besuch beim Zahnarzt, den er seit dem dreizehnten Lebensjahr so
konsequent verweigerte. Zudem war Marie, trotz allem, was man für sie in die
Waagschale werfen konnte, weit entfernt davon, jenes Ideal darzustellen, das er
für sich erträumt hatte. Es kam zu einigen nächtlichen Begegnungen, bei denen
Marie nachhaltigen Druck ausübte, allein dadurch, daß sie weder Druck noch
sonst etwas ausübte. Karl kapitulierte notgedrungen, war bald mit allem
einverstanden. Maries Eltern verhielten sich ihm gegenüber reserviert, wofür es
keinen echten Grund gab, außer daß der junge Mann aus gutbürgerlichem Hause
stammte, also kein bodenständiger, somit vertrauenswürdiger Prolet war, eine
Wohnung (wenn auch nur im Wedding) besaß und Jura studierte. Das alles wäre
hinzunehmen gewesen. Doch diese Frisur! – man sah ihm seinen politischen
Standpunkt ja geradezu an. Das würde, das mußte Ärger geben. Der Mensch war
zudem noch zwei Jahre jünger als Marie.
Wenigstens katholisch, meinte die Mutter. Am Ende verkündete der selten
rasierte, klapperdürre und leicht bucklige Moritz Dressler sein abschließendes
Verdikt.
Dies lautete nicht etwa Ja, so soll es sein, in Gottes Namen, sondern: Na jut, wenn mein Gör
es mal partout so will.
Immerhin. Es wurde selbstgebackener Rhabarberkuchen und Tee, danach
Eierlikör serviert, und Karl sah mit großer Erwartung dem Abend entgegen.
Max lebte während jener Zeit mit einer Prostituierten
zusammen, wobei er sie anfangs bezahlte, dann nicht mehr. Das ließ sein
Selbstbewußtsein enorm anschwellen, und die Tatsache, daß Ellie, wie sie für
Freunde hieß, Ellinor Margarethe Jakobowski, dreiunddreißig Jahre alt,
tagtäglich von etlichen Männern benutzt wurde, sie jenen aber immer etwas
vorenthielt, was spät am Abend, oft eher gegen Morgen, er, nur er in Empfang
nehmen durfte, echte, tiefe Zuneigung, eine Sehnsucht nach Geborgen- und
Vertrautheit, verbunden mit einer animalisch zu nennenden Hingabe. Max war der
glücklichste aller unglücklichen Menschen auf der Welt. Und beschwor Ellie bei
jeder Gelegenheit, ihrer Klientel Ade zu sagen, fortan nur für ihn allein zu
existieren. Ellie reagierte jeweils belustigt und brachte Max’ ungewisse
Zukunft zur Sprache. Wie könne ein Student der Philosophie und Germanistik, der
sein Studium zudem nicht gerade sorgfältig betrieb, einer deutlich älteren Frau
ernsthaft ein sorgloses Leben in Aussicht stellen? Vorwitzig sei das, um nicht
zu sagen: gedankenlos. Max wußte dem nicht viel entgegenzuhalten, und es
ärgerte ihn. Ellie war eine prachtlockige Brünette mit schmalen Lippen und
hellem Teint, hohen Wangenknochen und einem etwas zu kurzen Hals. Sie legte
Wert auf ihre Taille, aß beinahe nur Gemüse und helles Fleisch und trug
bevorzugt schwarze Stiefeletten. Max war eines Tages auf sie aufmerksam
geworden, weil sie nicht nur der Schauspielerin Pola Negri, sondern auch
Albertina entfernt ähnelte. In der Nacht, als er das Silhouette verschlossen
fand, hatte er in seiner Verzweiflung bei Ellie Zuflucht gefunden und die drei
Gramm Geburtstagskoks, die er bei sich trug, großzügig mit ihr geteilt. Sie
hatten beide, beinahe in derselben Sekunde, Nasenbluten bekommen, und wie
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