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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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etwas Ähnliches vorhergesagt. (Nietzsche hätte überhaupt sehr viel,
wenn nicht gleich alles vorhergesagt, giftete Karl. Der erste Satz des
Zarathustra werde irgendwann noch als Ankündigung der Quantenmechanik gelten.
Kleingeist! rief Max, Großkotz! schrie Karl zurück.)
    Die Gegenwart war ein Strudel geworden, ein
ungeheuerlicher Sog. Einschüchternd und kaum überschaubar. Hier wurden, so kam
es Max vor, Themen verhandelt, die in der Geschichte der Menschheit bislang
taktvoll ausgespart wurden, hier ging es ums Ganze, um einen hemmungslosen und
radikalen Umbruch der Zivilisation. Max wehrte sich noch ein paar Wochen, bis
er einsehen mußte, daß jenes Ungeheuerliche die Zeit, in der er lebte, mit Bedeutung
auflud. Und daß ihm das nicht völlig unangenehm war. Eine wilde Ära brach
heran, in der der Mensch Dinge ausprobieren konnte, die er nie zuvor
ausprobiert hatte, an deren Ende ein unvergleichliches Scheitern drohte oder
etwas sagenhaft Neues, für das es Worte noch nicht gab. Max fühlte die
drängende Sehnsucht, aktiver Teil der Umwälzung zu werden, aber er zögerte,
wartete ab. Es sprach auch viel dagegen. Vom intellektuellen Standpunkt waren
die Nazis definitiv indiskutabel, nicht umsonst galt ihnen das Wort
»Intellektueller« als Schimpfwort. Und sie taten einiges, um ihren Ruf als
illiterate Barbaren zu festigen.
    Am ersten April, manche hielten es für einen derben Scherz, gab es
einen Boykott jüdischer Geschäfte, ausgerechnet, das war von den neuen
Machthabern anscheinend übersehen worden, an einem Samstag/Sabbat, da die Läden
strenggläubiger Juden ohnehin geschlossen waren. Man konnte das als politische
Drohgebärde abtun, als Ausrufezeichen, das die neue Regierung setzte. Und was,
wenn das mit dem Sabbat gar kein dummes Versehen gewesen war, sondern Absicht,
um die Aktion in einem moderaten Rahmen zu halten? Um etwas auszuprobieren?
Sowohl Max wie auch Karl waren vom Jesuitenkolleg her antisemitisch geprägt,
doch ohne Aplomb und rigide Überzeugung. Die Judenfrage war ihnen mehr oder
minder egal. Beide glaubten, Karl sogar etwas mehr als Max, daß das
internationale Judentum arkan-hierarchischen Strukturen unterlag, im Inneren
streng organisiert und etlicher Umtriebe verdächtig sei, doch hielten sie den
einfachen jüdischen Kaufmann, den der Boykott am härtesten traf, für einen
Menschen wie jeden anderen, ohne politischen oder geheimbündlerischen
Hintergrund. Auch in der restlichen Bevölkerung kam keine Pogromstimmung auf.
Öfter als von Mißhandlungen war die Rede von Gesten der Loyalität gegenüber den
jüdischen Mitbürgern; das Regime konnte die Aktion kaum als Erfolg verbuchen.
Ein Grund vor allen anderen war, daß man in jüdischen Geschäften oft billiger
einkaufen konnte.
    Das Beängstigendste an der ganzen Aktion blieb, daß ein Unternehmen
wie Karstadt noch vor dem ersten April in vorauseilender Willfährigkeit jedem
jüdischen Mitarbeiter gekündigt hatte, um vom Boykott nicht betroffen zu
werden. Die jüdischen Mitglieder im Karstadt-Aufsichtsrat waren zuvor von ihrem
Posten zurückgetreten, um jene Entscheidung nicht mittragen zu müssen. Bizarre
Vorgänge, die man im Ausland mit Kopfschütteln registrierte.
    Am zweiten Mai, einen Tag nach der Bücherverbrennung unliebsamer
Autoren, neben Rosa Luxemburg auch Freud, Brecht und Heinrich Mann, überlegten
Max und Karl Loewe, aus purer Scham das Land zu verlassen. Sie waren beide
unabhängig voneinander vor Ort gewesen, hatten Erich Kästner in der Menge der
Zuschauer erkannt, der mitansehen mußte, wie seine eigenen Bücher dem
Scheiterhaufen übereignet wurden. Goebbels hielt eine geifernde Rede an die
deutschen Studenten, benutzte die Worte Schmutz und Unrat . Und die
Funken knackten; ein lauer Wind trug Aschefetzen über den Platz. Der Kopf einer
Magnus-Hirschfeld-Statue, dessen Sexualkunde-Institut den Nazis schon lange ein
Dorn im Auge gewesen war, wurde auf eine Lanze gespießt und geschwenkt. Unter
dem Applaus von 70.000 Zuschauern.
    Leider hingen die Brüder zu sehr an ihren neuen Wohnungen
und ihrem vom Erbe des Vaters gepolsterten Alltag, um Deutschland sofort den
Rücken zu kehren. Max beruhigte sich alsbald, redete sich die Sache klein. Es
seien nur Bücher verbrannt worden, keine Menschen. Karl verwies auf einen
prophetischen Spruch von Heine, wonach, wo Bücher verbrannt werden, am Ende
auch Menschen – aber Max wiegelte ab. Griffige Sprüche seien eben nur Sprüche,
keine Orakel, und Theater bleibe Theater,

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