Nicht ganz schlechte Menschen
Essay über das Deutsche Wesen und dessen Hang zum sklavischen Gehorsam. Diesen Text irgendwo, und sei es auch
anonym, auszuhängen oder sonstwie in Umlauf zu bringen, wagte er denn doch
nicht. Wie so vieles, das man sich in jener Zeit einfach von der Seele schreiben mußte, landete der Essay (eher
ein wütendes Pamphlet) zuerst in einer abschließbaren Schublade, wurde
dann – schweren Herzens – verbrannt. Aus Sicherheitsgründen. Max war
frustriert. Seinen brillanten Text, das Einzige, was er in den letzten Jahren
zu Papier gebracht hatte, selbst zu verfeuern, bildete doch das beste Beispiel
für ebenjenen Kadavergehorsam, den er darin furios kritisiert hatte. So konnte
es nicht weitergehen. Depressionen nagten an ihm. Er mußte sich entscheiden.
Zur Affirmation oder Opposition. Dazwischen gab es kein Glück in diesem Land,
in dieser Zeit.
Am Abend des 28. Juli 1934 kam es in Karls Wohnung zu
einer längeren Debatte. Marie wollte einen Liebesbeweis.
Denn jeder Beischlaf könne einen Menschen zur Folge haben.
Aufgrund dessen begehrte sie einen Liebesbeweis, um die mögliche Zukunft dieses
möglichen Menschen gesichert zu wissen.
Was sie sich darunter vorstelle, fragte Karl verdutzt und leicht
verärgert. Er solle sich eben etwas einfallen lassen, gab Marie zur Antwort,
das sei gewiß nicht zuviel verlangt, und ihm einen Hinweis zu geben, würde den
romantischen Gehalt der Sache entscheidend reduzieren. Karl hatte für Romantik
reichlich wenig übrig, eine sentimental-bürgerliche Attitüde war das, die
beengte und ärmliche Verhältnisse überhöhen und verklären wollte, um Vernunft
und Widerstandswillen des Proletariats einzulullen.
Was verstünde denn bitte er vom Proletariat? Weil Marie sich auf stur stellte und
die Wohnung um zehn Uhr abends, wie von den Eltern ausbedungen, verließ, ohne
sich zu einem Kompromiß oder Zugeständnis herabzulassen, fragte Karl, und das
war außergewöhnlich, seinen Bruder um Rat.
Der meinte, und er lachte dabei (er lachte selten), derlei Geflügel
müsse man sofort verlassen, sonst binde man sich ein Leben lang Unglück und
Fremdherrschaft ans Bein. Und er zitierte IHN : Würdig schien mir
dieser Mann und reif für den Sinn der Erde: aber als ich sein Weib sah, schien
mir die Erde ein Haus für Unsinnige. Ja, ich wollte, daß die Erde in Krämpfen
bebte, wenn sich ein Heiliger und eine Gans miteinander paaren.
Karl hielt sich für derb verspottet und brüllte, daß es hier nicht
um irgendein Flittchen gehe, sondern um die erwählte Frau seines Herzens, und
daß er nie mehr irgendein Wort von Max hören wolle, wenn ihm nicht gleich noch
etwas Angemesseneres einfiele. Max entgegnete, daß er das Wort Flittchen ,
womit wohl Ellie gemeint sei, nicht auf sich (oder ihr) sitzen lasse. Es kam
zum erneuten Bruch zwischen den Brüdern. Sie redeten über Monate nicht
miteinander.
Marie wäre dabei mit einer schlichten Geste zufrieden gewesen. Ihr
hatte in etwa vorgeschwebt, daß Karl sich mit einem gereimten Gedicht aus der
Affäre ziehen würde, oder mit vielen Kerzen, die er nachts vor ihrer Haustür in
Form eines Herzens drapieren würde, vielleicht noch garniert mit einem auf der
Gitarre begleiteten Lied, etwas in der Art. Statt dessen verstand Karl ihre
Forderung ganz falsch und überschrieb ihr den halben Besitzanspruch an seiner
Weddinger Wohnung. Romantisch war das eher nicht, aber als Zeichen wog es
schwer – und Marie gab sich damit zufrieden. Auch ihre Eltern waren genügend
beeindruckt. Eine mögliche Hochzeit wurde für den kommenden Herbst ins Auge
gefaßt, und Marie erhielt die Erlaubnis, hin und wieder bei Karl zu
übernachten. Für die strengen Konventionen der Zeit war das eine generöse
Regelung. Übelwollende Nachbarn hätten die Dresslers wegen Kuppelei anzeigen
können, ungeachtet des bestehenden Verlobungsverhältnisses. Aber es gab zum
Glück nicht nur Boshaftigkeit auf der Welt. In Berlin, und daran hatten auch
die Nazis noch nichts grundlegend ändern können, war es den allermeisten Menschen
einerlei, wie, wann und mit wem es der Nachbar sich gut gehen ließ. Daß es Karl
Loewe im Grunde nicht wirklich gut ging, kümmerte sie gleich noch viel weniger.
Je näher der Termin der Hochzeit rückte, desto unruhiger wurde der junge
Bräutigam. Mal kamen die Zweifel wie ein Schwarm Stechmücken, mal wie ein
Ausschlag auf der Gehirnhaut. Dabei wäre es Karl schwergefallen, seine Einwände
gegen die Heirat zu präzisieren. Marie besaß keinen schlechten
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