Nicht ganz schlechte Menschen
haben?
Vollends
tragisch mutete an, wie die Spionage aufgeflogen war. Renate von Natzmer war
als Sekretärin im Verteidigungsministerium beschäftigt gewesen. Ihre Mutter
hatte sich bei Renates Vorgesetzten darüber beschwert, daß die Tochter abends
im Büro so viele Überstunden ableisten müsse. Es waren jedoch nie Überstunden
angeordnet worden. Der Vorgesetzte machte der Gestapo Meldung.
Hitler
gewährte keine Gnade. Die beiden ausnehmend schönen und noch jungen Frauen
wurden vom Scharfrichter mit einem sogenannten Richtbeil enthauptet –
grauenhaft drastische Skizzen wanderten durch die Boulevardblätter. Die erregte
Diskussion darüber brachte Hitler dazu, zu verfügen, daß im Deutschen Reich
Todesurteile nur noch per Guillotine oder durch den Strang zu vollziehen seien.
Ein Helfershelfer, las Max in der Zeitung, ein gewisser
Pole namens Georg oder Jerzy Sosnowski, ein Major der Reserve und
selbsternannter Ritter von Nalecz, sei dagegen nur zu lebenslanger Haft
verurteilt worden, weil ihm als Nicht-Deutschem kein Landesverrat zur Last
gelegt werden konnte. Max erschrak. Er kannte Jerzy. Jeder, der in Berlin
längere Zeit das Nachtleben in gewissen Kaschemmen genossen hatte, kannte
diesen großzügigen Polen; legendär waren dessen Champagnerfeste – und Max
glaubte sich nun auch an Benita von Falkenhayn zu erinnern, eine lebenslustige
Blondine, die gerne lachte, das war bei dieser Feier im Hohenzollern-Café , die
beinahe zur Orgie – Max schauderte. Er stellte sich ihren vom Körper getrennten
Kopf vor und brachte das Bild nicht mehr dazu, sich von seinem Kopf zu trennen, er
träumte schlimm und bildete sich nach und nach ein, sogar Sätze mit jener
Benita gewechselt zu haben, nicht nur Trinksprüche und Anzüglichkeiten.
Sosnowski war auf einem dieser Feste verhaftet worden, mit allen anderen Gästen, fünfzig an der Zahl. Max schauderte es noch
mehr. Vielleicht stand sein Name drüben im Reich auf irgendeiner Liste.
Bestimmt hatte man all jene Gäste gefoltert, nach irgendwelchen Namen ausgepreßt – und welchen würden sie lieber nennen als seinen, nicht aus Gemeinheit, aber
da sie wußten, daß er nicht mehr vor Ort, sondern in ›Sicherheit‹ war, würden
sie sich gar nichts dabei denken, seinen Namen zu nennen. Unter Folterschmerzen
zu brüllen. Aller möglichen und denkbaren Verbrechen würden sie ihn
bezichtigen. Sodomie. Handel mit Kokain. Umgang mit polnischen Spionen.
Jüdischen Nutten. Wer weiß, was noch alles. Max wurde ganz bleich, er zitterte – und doch ging es ihm in den folgenden Tagen besser und besser. Er empfand
sich plötzlich, auf eigenartige Weise, wieder als bedeutend. Wie seit der
ersten Nietzsche-Lektüre nicht mehr.
Und er hatte, anders als sein Illusionen nachhängender Bruder, eine
Stellung in petto. Oder immerhin in Aussicht.
Er sprach am Abend mit Ellie darüber, und als die nichts
daran auszusetzen fand, auch mit Karl. Der einiges daran auszusetzen fand. Ob
er sich nicht schäme, etwas derart unter jeder Menschenwürde Befindliche auch
nur in Erwägung zu ziehen. Max entgegnete, daß man sich in dieser Zeit, im
fremden Land, allzu skrupulöse Erwägungen leider nicht erlauben könne. Die
Arbeit sei zudem gut bezahlt.
Fortan stand Max Loewe gegen sechs Uhr morgens auf, um im
Stadtpalais des Marquis de Paulignac ein halbes Dutzend unterforderter Huskies
in Empfang zu nehmen, die viel Auslauf brauchten. Mindestens drei Stunden
sollte er mit ihnen durch den Bois de Boulogne hetzen, dafür waren ihm dreißig
Francs pro Tag (umgerechnet fünf Reichsmark) als Vergütung versprochen worden,
und wenn er hinterher dem Marquis, sofern der Lust hatte, zur Verfügung stand,
in der Bedienstetenwohnung oberhalb der Garage, gab es zwanzig Francs
zusätzlich. Plus Trinkgeld. Davon konnte man leben, wenn man nicht unbedingt
Wert auf ein Hotel legte.
Raymond Paulignac, ein im sechzigsten Lebensjahr
stehender, noch stattlicher Mann, lebte seine erotische Neigung sehr versteckt
aus. Als Gatte einer viel jüngeren Frau und Vater von drei fast erwachsenen
Töchtern aus erster Ehe mußte er den Schein wahren, vor allem vor seinen
Sportskameraden. Paulignac ritt immer noch aktiv Dressur und war Mitglied im
nationalen olympischen Komitee. Auch seine Germanophilie suchte er
geheimzuhalten. Dafür hätte es in der französischen Hauptstadt weit weniger
Verständnis gegeben als für erotische Aberrationen jedweder Art.
Der Marquis war zugleich euphorischer Nietzscheaner wie
Wagnerianer
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