Nicht ganz schlechte Menschen
Aufenthaltsverweigerung,
gegen die beim Innenministerium Berufung eingelegt werden konnte. Bis eine
endgültige Entscheidung getroffen wurde, durfte der Antragsteller im Ort
bleiben, mußte sich jedoch gewöhnlich einmal in der Woche bei der Polizei
melden. Erst im Laufe des Jahres 1935, aufgrund einer Initiative der Sozialisten,
entspannte sich die Lage der Emigranten wieder. Davon konnte Karl zu diesem
Zeitpunkt aber nicht ausgehen, und die Furcht, alsbald in einem deutschen
Konzentrationslager zu landen, trieb ihn in Richtung Wahnsinn. Obwohl ihm auf
dem Weg dorthin noch wochenlang sein Stolz im Weg stand, bat er den Bruder, der
viel gelassener agierte, endlich um Hilfe.
Max nutzte denn seine Beziehung zum Marquis de Paulignac,
der ihm den Gefallen gerne tat, aus ureigensten Motiven. Aber war es ratsam,
den einzigen Verbündeten im Land gleich um drei Gefallen in Reihe zu
bitten?
Er entschloß sich zur Wahrheit, trat hin vor Raymond , wie er ihn, wenn
sie unter sich waren, nennen durfte, und sagte, indem er seine offenen
Handflächen zeigte und die Stimme senkte, er habe aus Deutschland zwei Freunde
mitgebracht, seinen Bruder, einen ehemaligen Kommunisten, und eine als
Halbjüdin verfolgte, nicht mehr ganz so junge Prostituierte, aber der eine habe
dem Kommunismus und die andere der Prostitution abgeschworen.
Ich verstehe völlig, lieber Raymond, wenn du für diese beiden nichts
tun willst, aber ich halte es für meine Pflicht als Ehrenmann, dich darum zu
bitten.
Was schnitzt du denn für große Töne? Der Marquis lachte. Max
verstand nicht.
Dein Bruder also – ein starkes Stück. Und die andere, hohoho – ist
deine Freundin etwa? Ja? Ta petite amie?
Max nickte. Mit dem Mut der Verzweiflung. Der Marquis lachte erneut,
als habe er lange kein ähnliches Amüsement genossen.
Du möchtest mich ernsthaft darum bitten, daß ich einem Roten und
einer versauten Halbjüdin helfe, nur weil der eine dein Bruder ist und du in
die andere deinen Samen gießt?
Diesmal wagte Max es nicht zu nicken. Er senkte leicht den Kopf.
Du bist wirklich ein Deutscher! Imponierst mir. Du redest von deinem
Bruder und der Frau, mit der du schläfst! Redest von Menschen, die dir
nahestehen. Wofür hältst du mich? Nein, diese Art Fanatismus müssen wir
Franzosen von euch erst noch lernen! Was guckst du mich an mit so großen Augen?
Nutz mich aus! Das bißchen Einfluß, das ich habe, Mensch, könnte ich doch
besser nicht genießen, als dir und den deinen zu helfen! Wofür denn lebe ich?
Max schnellte aus dem Sessel, um seinen Wohltäter zu umarmen und zu
küssen.
Auf diese Weise bekamen die drei deutschen Emigranten eine
Carte d’Identité und hatten vorläufig ihre Ruhe, wenn sie auch das für sie
zuständige Departement, Paris, nicht ohne Genehmigung verlassen durften. Aber
wozu hätten sie das tun sollen? Sie feierten, kauften Wein, Kerzen und
Leckereien, die sie immer schon einmal hatten kosten wollen, Austern zum
Beispiel, deren Genuß Ellie mit den Worten kommentierte, derlei habe sie von
ihren Kunden oft genug als Dreingabe bekommen.
Karls Fröhlichkeit war anfangs echt; bald wirkte sie bemüht und
aufgesetzt. Zwar war er heilfroh darüber, nicht mehr unmittelbar eine
Abschiebung erwarten zu müssen, aber daß er diesen Umstand seinem Bruder und
dessen fragwürdigen Beziehungen zum Adel zu verdanken hatte, nagte schwer an
seinem Selbstbewußtsein. Karl fühlte sich fehl am Platz, und erkundigte sich bei
diversen Gleichgesinnten über Wege, sich in die Sowjet-Union abzusetzen. Wo
jemand wie er seiner Meinung nach gebraucht wurde. Glücklicherweise geriet er
an wohlwollende Menschen, die ihm dringend davon abrieten. In Moskau seien
junge Genossen aus Deutschland derzeit ganz automatisch einem Spionageverdacht
ausgesetzt. Von etlichen, die rübermachten, habe man nie mehr etwas gehört, sie
seien verschwunden. Karl reagierte empört. Wohin war der Kommunismus gekommen,
wenn ein Held, ein Riese wie Stalin sogar aus den eigenen Reihen der
Gesetzlosigkeit verdächtigt werden konnte? Und doch bewirkten die Warnungen,
daß Karl unschlüssig wurde und die weite Reise immer wieder verschob.
Schließlich war die Sowjet-Union noch jung, quasi in der Pubertät, und ihrer
selbst noch nicht sicher. In einer solchen Phase waren vereinzelte
Überreaktionen tatsächlich denkbar.
Im
September 1935 wurde das
›Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre‹
erlassen. Ellie, als Mischling ersten Grades, und der
reinblütige
Weitere Kostenlose Bücher