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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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beobachten. Dagegen hätte der Marquis rein weltanschaulich nichts
einwenden können.
    Ellie, Karl und Max zogen vom Hotel Radio ins studentisch
geprägte Quartier Latin, in ein Souterrain-Zweizimmer-Appartement in der Rue
Clovis mit Ofenheizung und Lokus auf halber Treppe. Nachdem sie es lange
hinausgezögert hatten, meldeten sie sich bei den Behörden an. Denn als
Vergnügungsreisende konnten sie nun nicht mehr glaubhaft gelten, und es wäre
gefährlich gewesen, bei einer Personenkontrolle ohne den Stempel amtlicher
Duldung erwischt zu werden. Wer Ausländer bei sich aufnahm oder ihnen eine
Wohnung vermietete, war per Gesetz verpflichtet, dies innerhalb von 24 Stunden
zu melden. Also beantragten Karl und Max eine Aufenthaltsgenehmigung, eine Carte d’Identité ,
die für drei Jahre gelten würde. Einen Status als politische Flüchtlinge nahmen
sie aber nicht in Anspruch. Ellie weigerte sich zuerst, hielt es für sicherer,
keine unabänderliche Identität mit sich herumschleppen zu müssen, sah aber bald
ein, daß das etwas milchmädchenhaft gedacht war.
    Im
Jahr 1932 konnten Deutsche eine Carte d’Identité noch sehr schnell und ohne
Schwierigkeiten erhalten. Seitdem hatte sich vieles verändert. Die französische
Regierung suchte ein Mittel, sich ausländischer Unruhestifter auf schnellstem
Wege zu entledigen. Flüchtlinge mit einer Carte d’Identité wurden bald zur
Ausnahme. In den meisten Fällen erhielten sie schon Ende 1934 lediglich
sogenannte
›Récépissés‹
– das waren Empfangsbescheinigungen, die drei Monate
lang gültig waren und jeden Emigranten hundert Francs plus vier Francs
Stempelpapier kosteten.
    Max und Karl Loewe hatten sich in der Freiheit gewähnt –
und nicht wirklich eine Ahnung gehabt, was in Frankreich 1934 vor sich gegangen
war. Nämlich eine Welle der Xenophobie.
    Ein rumänischer Hochstapler und Jude namens Alexandre Stavisky hatte
der Rechten den Vorwand für antisemitische und fremdenfeindliche Kampagnen
geliefert. Der Einfluß faschistischer Gruppen wuchs bedenklich. Im Oktober dann
ermordeten kroatische Nationalisten, die dem faschistischen Geheimbund Ustascha
angehörten, den zu einem Staatsbesuch in Marseille weilenden jugoslawischen
König. Der im gleichen Wagen befindliche französische Außenminister Barthou kam
ebenfalls ums Leben. Die französische Polizei reagierte auf die Morde mit einer
Reihe brutaler Aktionen gegen Ausländer. Da die Gerichtsverhandlung zeigte, daß
die Attentäter vom Deutschen Reich zumindest mittelbar unterstützt worden sein
mußten und daß ihre Pässe wohl aus einer deutschen Fälscherwerkstatt stammten,
wurden viele deutsche Emigranten des Landes verwiesen. All das war gerade mal
ein halbes Jahr her, und unter normalen Umständen hätten Max, Karl und Ellie
keine Chance auf eine schnelle Aufenthaltsgenehmigung gehabt. Es gab jede Menge
Gründe, als lästiger Ausländer zu gelten und expediert zu werden. Dazu
gehörten: unerwünschte politische Betätigung, strafbare Handlungen oder
Betteln, unerlaubte Arbeit oder Zeitungsverkauf, wirtschaftliche Not und
Inanspruchnahme französischer Wohlfahrtseinrichtungen. Schon der Nichtbesitz
von gültigen Papieren brachte viele Emigranten in eine prekäre Lage. Weil das
Deutsche Konsulat keine abgelaufenen Pässe verlängerte, standen bald so gut wie
alle Emigranten vor demselben Problem. Immer wieder kam es vor, daß Flüchtlinge
direkt an Deutschland ausgeliefert wurden. Max, Karl und Ellie waren all jene
Probleme nicht im Mindesten bewußt gewesen, sie hatten bislang mit ihrer
Gedankenlosigkeit schlicht Glück gehabt. Das Paradies Paris büßte an Glanz
immens ein. Karl geriet in Panik. Er, ein wenn auch sehr kurzfristiges Mitglied
der deutschen KPD , mußte der hiesigen bürgerlichen
Regierung ein Dorn im Auge sein. Für die drei erwies es sich als entscheidender
Vorteil, nicht den Status als politischer Flüchtling in Anspruch genommen zu haben. Max und
Karl besaßen noch, wenn auch mehr zufällig, ihre Immatrikulationsbescheide der
Friedrich-Wilhelms-Universität. Sie hätten behaupten können, ein Jahr im
Ausland studieren zu wollen. Sie schrieben sich denn auch sofort an der
Sorbonne ein, um dem Szenario mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen. Ellie konnte
das nicht, sie besaß nur die mittlere Reife, somit keine Berechtigung zu
irgendeinem Studium. Es kam, wie zu erwarten: Statt einer Carte d’Identité
erhielten alle drei den Status eines Refus de Séjour . Das war eine

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