Nicht ganz schlechte Menschen
und unbestechlich. Für solch erhellende Vorhaltungen liebte er Ellie,
wenn auch stets mit ein wenig Verspätung. Ob sie dabei die reine Wahrheit sagte
oder nicht, egal, das spielte eine nachgeordnete Rolle. Sie machte aus ihrem
Herzen keine Mördergrube, redete frei, wie sie es empfand, und ein bißchen was
war fast immer dran an dem, was sie so unbekümmert bis (hinter-)gedankenlos von
sich gab. Max fand Ellie gerade deswegen vertrauenswürdig, weil er sie
vertrackter Strategien letztlich für unfähig hielt. Umgekehrt brachte Ellie der
Bildung und Klugheit ihres Freundes Respekt entgegen, stellte an Max abe reinen
latenten Mangel an Diplomatie und Weltweisheit fest. Gerne hätte er Ellie
Vorschriften gemacht, doch seine an jedem dritten Abend formulierten
Heiratsanträge lehnte sie beharrlich ab. Nicht etwa, weil sie ihn nicht liebte.
Es war die erfahrene Frau in ihr, die befürchtete, daß Max sie allzubald
überbekommen würde. Womit sie grundfalsch lag. Erst ihre ständigen Weigerungen,
Max zum Ehemann zu nehmen, brachten den dazu, an Ellies Liebe zu zweifeln und mögliche
Alternativen in Betracht zu ziehen. Eine solche ins Auge springende Alternative
war Janine, ein neunzehnjähriges Marktfräulein von außerordentlicher Schönheit,
bei dem Max an jedem Mittwoch und Samstag Obst kaufte. Er dachte sich nicht
viel dabei, als er sie zum Tee einlud, danach zum Wein. Es steckte auch nicht
viel dahinter, als er sie am Seine-Ufer küßte und ihre Brüste streichelte. Zu
mehr kam es nicht, denn Max begriff gerade noch rechtzeitig, daß er Janine gar
nicht haben, sondern Ellie bestrafen wollte, Ellie davon aber nie etwas
erfahren würde, was die Aktion bis zur kompletten Sinnlosigkeit entwertete.
Einfach nur einen neuen Körper zu genießen, lohnte das zu erwartende Nachspiel
in Konsequenzistan nicht. Janine fand sich mißbraucht, verstand die Welt nicht
mehr und weinte. Max entschuldigte sich bei ihr, es läge seinerseits ein
beklagenswertes Mißverständnis vor. Dann ließ er das Mädchen auf der Straße
stehen, um kein noch größeres Unheil anzurichten.
Bisweilen erinnerte sich Max an seinen großspurigen
Vorsatz, mehr aus seinem Leben zu machen als irgendein Mensch zuvor.
Hitler – der von einem außenpolitischen Erfolg zum nächsten raste,
erst die Heimholung des Saarlandes ins Reich, später dann der deutsch-britische
Flottenvertrag, selbst mit der allgemeinen Wehrpflicht hatte er sich gegen die
Sieger des Weltkrieges durchgesetzt – war denn nicht genau er jener Mensch, der
mehr aus sich gemacht hatte als irgendwer zuvor?
Ein Gefreiter, ein kleiner Meldegänger, der nach dem Putsch 1923
eigentlich zum Tode hätte verurteilt werden müssen, der es stattdessen, kaum zu
glauben, zum Reichskanzler gebracht hatte, der dabei war, der deutschen Nation
nach ihrer verheerendsten Niederlage zu neuem Glanz zu verhelfen. Dem die
Bevölkerung zujubelte, in dem vier von fünf deutschen Frauen einen Retter der
Nation zu erkennen glaubten. Max war an dem Punkt angelangt, einsehen zu
müssen, daß ein anderer dabei war, seinen verwegenen Traum Wirklichkeit werden
zu lassen. Ein genialischer Demagoge. Hitler war kein Nietzsche, nein, aber
vielleicht war er ein Wegbereiter, eine Volksausgabe dessen, was für die Grundsteinlegung der Zukunft benötigt wurde. Ein
populistisches Gelenkstück für kommende, kaum vorstellbare Umwälzungen. Hitler
war nur ein sterblicher Mensch, der, auf gewisse Weise beeindruckend, über
seine Zeit herrschte. Aber es herrscht doch immer die Zeit über die Menschen. Notierte Max in sein Sudelbuch. Nur der Übermensch wird zeitlos sein.
Während er dies schrieb, empfand er bereits die
bedrückende Gewißheit, die Ankunft des Übermenschen nicht mehr zu erleben.
Es
müßte ja richtiger: Übermenschheit heißen, es kann ja keinen Einzelnen
geben. Höchstens Propheten und Vorkämpfer. Und Nietzsche wollte mit voller
Absicht keine Systematik in sein Denken bringen, um nur keine Bürokraten hinter
sich zu scharen. Das weiß ich nun. Denn Systeme –
Max begriff, in einer einzigen Sekunde, einer hell gleißenden,
riesigen Sekunde, daß jeder heilige Kampf, angekommen in der realen Politik, in
eine Schreckensherrschaft münden muß. Denn der heilige Krieger ist immer nur
einer, seine dumpfen Schergen sind andere und viele. Und jeder Kampf, auch der
heiligste, braucht Gewalt, um einer Idee Raum abzugewinnen in der Wirklichkeit,
sie Fuß fassen zu lassen im Folgen-Reich (oder Konsequenzistan , wie
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