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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Beamten, die
routinemäßig nach dem Grund der Reise fragten, erhielten zur Auskunft, es
handle sich um eine Urlaubsfahrt. Die bereits 1931, weit vor den Nazis,
beschlossene Reichsfluchtsteuer von 25 Prozent diente den neuen Machthabern als
Einnahmequelle, womit vor allem jüdische Auswanderer geschröpft wurden, die
nach Palästina unterwegs waren.
    Als die drei gegen Mitternacht die Reichsgrenze
passierten, angekommen in der Freiheit, holte Ellie eine Flasche warmgewordenen
Sekt aus ihrem Gepäck, das letzte Geschenk ihres treuesten Kunden, der mit
seinem Selbstmord gedroht hatte, für den Fall, daß sie nicht wiederkäme. Und
selbst der abstinente Karl ließ sich zu einem Schluck überreden.
    Sofort nach ihrer Ankunft in Paris stellte sich heraus,
daß die Brüder doch noch sehr unreif waren. Statt sich bei erfahrenen Exilanten
nach preiswerten Möglichkeiten zu erkundigen, logierten sie in ihrer
Großspurigkeit für fünfundsechzig Francs die Nacht im Hotel Radio am Montmartre, mit
Zentralheizung und fließend heißem Wasser, erkundeten die Stadt, aßen im
Restaurant und ließen Wochen vergehen, bevor sie sich ernsthaft Gedanken über
die nähere Zukunft machten. Nur Ellie, ein von Natur aus vorausschauender, auf
Sicherheit bedachter Charakter, knüpfte in Cafés einige Bekanntschaften, wofür
sie sich von Max allabendlich Eifersüchteleien anhören mußte.
    Paris war schlichtweg großartig. Die Stadt erwies sich als
noch liberaler, als es selbst Berlin in den goldenen Jahren vor den Nazis
gewesen war. Eine Zuflucht, ein El Dorado für Abenteurer und Freigeister, für
Andersartige und Schwarze Schafe, Genies und Scharlatane, Bonvivants und Avantgarde-Ästheten.
Hier konnte der Ehrgeizige zum Emporkömmling werden und der faule Träumer seine
Ruhe haben, hier tobte das Leben, sexuell wie intellektuell, viele Amerikaner
waren in der Stadt und brachten neue Ideen nach Europa, neue Musik und
Literatur, und während in Berlin mit definitiv entarteten Parametern über
angeblich entartete Kunst debattiert wurde, etwa ob Nolde oder Barlach einem nordischen
Impressionismus zuzuordnen seien, wie Propagandaminister Goebbels
meinte, oder dem entbehrlichen Müll, wie Chefideologe Rosenberg meinte, eine
Debatte, die Hitler dann höchstpersönlich, aus einer Laune heraus, zu Ungunsten
Barlachs und Noldes entschied (worauf Goebbels zum um so entschiedeneren
Kämpfer gegen die Moderne wurde – eine bedrückende Komödie), konnte man in
Paris kaum irgendwo betrunken zu Boden stürzen, ohne das Atelier eines
bedeutenden Künstlers im Sichtfeld zu behalten. Max und Karl verfeinerten ihr
Französisch, indem sie auf Märkten lange um Preise feilschten, indem sie
Kellner in Gespräche, ja oft sogar in politische Debatten verwickelten. Den
teutonischen Akzent, der sie anfangs als Touristen verriet, legten sie binnen
dreier Monate vollständig ab. Ellie hingegen tat sich schwer mit der neuen
Sprache. Max verwendete viel Mühe darauf, ihr das Nötigste beizubringen,
nächtelang führte er simple Konversationen mit ihr, fragte sie wie ein
Schulkind nach Vokabeln ab. Sobald sie sich überfordert fühlte, sagte Ellie,
daß ihr Französisch immerhin gut genug sei, um notfalls etwas Geld zu
verdienen. Ein Kalauer, den Max nicht mehr hören konnte. Der ihm Bauchschmerzen
bereitete.
    Ellie war alles in allem ein pflegeleichtes Wesen, frei von Bosheit.
Wenn man sie aber reizte oder wenn sie etwas getrunken hatte, konnte sie
rücksichtslos austeilen und bot das beste Beispiel für eine sogenannte Berliner Schnauze .
Manchmal wirkte sie auch etwas primitiv und ungelenk, entsprach nicht ganz dem
gängigen Bild einer Frau von Welt und zeigte einen beinahe pubertären Humor.
Wenn Max sich für seine Freundin genierte, ließ er sie das deutlich spüren.
Ellie hielt ihm im Gegenzug vor, daß er keine Fröhlichkeit ertrage und zum
Lachen in den Keller gehe. Im Lauf der Zeit wurden die beiden einander etwas
ähnlicher, kamen dem Partner entgegen, wie es bewußt oder unbewußt in jeder Beziehung
geschieht, in der man sich, um ein Höchstmaß an Liebe und Begierde zu
empfangen, noch Mühe gibt, dem anderen zu gefallen. Max redete sich ein, er
könne von einer solchen Annäherung profitieren, hielt er sich selbst doch, was
seine Wirkung nach außen betraf, für etwas steif und verschattet. Auf viele
Menschen wirke er, meinte Ellie, zuerst arrogant, dann unsicher und
verschlossen. Ganz und gar nicht – wie Max bis dato von sich geglaubt hatte –
souverän

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