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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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begnügen, der von der reichen
Tafel der Möglichkeiten übrigblieb. Jede Entscheidung macht uns um so vieles
ärmer, engt uns ein, zieht Mauern hoch um uns, auf die wir mit der Kunst
künstliche Horizonte malen. Die echten Horizonte waren uns zu fern, zu groß, zu
unhandlich, zu unüberschaubar. Kunst, und damit meine ich jede Gegenwelt, die
irgendwer, ob Maler, Architekt, Bildhauer, Literat oder Komponist, erschafft,
beginnt immer mit gefälschten Horizonten, sie richtet sich nie nach dem, was ist,
sondern nach unserer Vorstellung davon. Nach unserem Vermögen, das zu Sehende
zu deuten. Wir müssen, was wir vorfinden, vereinfachen, um damit souverän
umgehen zu können. Die komplexe Welt wird auf eine knabenhafte Skizze
reduziert. Und selbst wenn wir durch immerwährendes Lernen die Skizze nach und
nach ausgestalten, verfeinern, kolorieren, erweitern – nie wird Kunst, selbst
allergrößte nicht, in Konkurrenz zu dem treten können, was uns einst
gegenübertrat. Als wir an der Mutter Busen hingen und staunten und ganz
selbstverständlich Teil von allem waren, es nicht hinterfragen, sondieren,
erklären mußten, nein, wir waren auf die unvollkommenste Weise perfekt. Bis wir
uns abgesondert haben, Individuen wurden, durch das Lernen und Denken und
Studieren. Fremde in einer Welt, deren Kinder wir waren. Wir lernten Gott, wir
lernten uns selbst. Für Gott und uns selbst wurde die Skizze zu eng. Gott
starb, wir blühten auf. Noch standen uns Vater, Mutter und Bruder im Weg. Und
mein strammstehendes Geschlecht, für das es so viele Namen gibt. Gottes Penis
hieß Mephisto.
    Aber
Gott ist tot, ihn sind wir los, Mephisto noch nicht. Das Allzumenschliche am
Menschen. Wir müssen Einsamkeit genießen lernen. Ungebundenheit. Das Weib
fortschreien, das Sicherheit und Kinder will. Um kompromißlos die Wände um uns
her einzureißen, um wieder in Kontakt mit dem Urszenario zu treten und jenseits
aller Konventionen und geistigen Mullbinden unsere Wände/Wunden auszuheilen im
Licht jener heiligen Sonne, die von unserer Existenz kaum etwas ahnt. Wir
müssen lernen, immer lernen, nur so bleiben wir uns treu. Jede Gewißheit muß
einen Verdacht nach sich ziehen, kann höchstens eine Zwischenlösung sein.
Sobald aus unserem Denken ein Regelwerk erwächst, ist es tot, an Verfettung
gestorben. Jeder Sinn ist nur ein hausgemachter Zwang, dem wir uns ohne Not
aussetzen.
    Soweit der Wortlaut der ersten Seite jenes Romans, den Max
Loewe schrieb. Die
Sinnlosigkeit.
    Er war betrunken vor Stolz, nebenbei auch konkret betrunken, als er
Karl und Ellie den Text bei Kerzenschein vorlas.
    Ellie hielt sich mit einem Urteil zurück, meinte nur, es klänge ganz
klangvoll, nur irgendwie naja, besonders der Absatz mit dem Weib, das
Sicherheit und Kinder will.
    Karl nannte das Gehörte substanzloses Geblubber, bis auf den Titel
(den fand er sehr passend) sinnfreies Gequatsche, entstanden aus spätpubertärer
bourgeoiser Fantasie. Max wußte nicht, welcher der beiden Kommentare ihn mehr
beleidigte. Sowohl Karl als auch Ellie waren vorerst für ihn gestorben, er trat
vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen und die drückende Wut im Bauch auf den ganzen Körper zu
verteilen. Er wollte selbst aus dieser Situation noch etwas lernen und mußte,
wenn auch widerwillig, einsehen, daß es zwischen Mensch und Übermensch niemals
eine Komfort-Verbindung geben würde, eher und allerhöchstens einen steinigen,
sauerstoffarmen, verlust- und dornenreichen Weg, durch viele eisige Nebel
hindurch.
    Auch Karl lernte aus der Angelegenheit etwas. Nämlich, daß
es nicht genügte, die Schriften des Klassenfeindes vernichtend zu kritisieren.
Man mußte ihnen etwas Eigenständiges entgegenhalten. Und zwar nicht im
theorielastigen hochwissenschaftlichen Duktus der großen marxistischen Urväter.
Nein, Karl begriff, daß verirrte Jugendliche wie Max eine Sprache benötigten,
die ihrer inneren Unsicherheit und Unreife gewissermaßen entsprach, die den
besonderen Umständen der modernen Zeit geschuldet war. Die den Rhythmus des
Jazz verinnerlicht hatte und die Kosmopolität der europäischen Jugend. Die sich
auch zu nicht vordergründig politischen Themen äußerte und die Ängste des
Erwachsenwerdens ernstnahm, statt sie als periodische und von selbst
vorübergehende Schwäche abzutun. Dazu gehörte, sich den neuen Philosophen zu
stellen, die jenseits des dialektischen Materialismus standen, aber nicht so verblasen waren wie die
elitären Kulturpessimisten. Der Reiz dieser

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