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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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auch Neugier und Majestät. Ein großer und neuer Roman.
Notwendig muß er sein. Nicht unbedingt schön.
    Noch in derselben Nacht skizzierte er das erste Kapitel des Stilleben mit Hure
und Bruderfeind. Gegen die drohende Sinnlosigkeit. Wie man nie wird, was man
nie war.
    Ein etwas zu langer Titel, fand Max. Die Sinnlosigkeit –
genügte. Ein Buch für alle und keinen.
    Ein Roman herkömmlicher Bauart konnte das nicht werden. Das mußte
letztlich etwas Epochal-Sonderbares wie der Zarathustra sein, eine
Gehirnwäsche im besten Sinne. Der Leser sollte durch die reine und reinigende
Lektüre das Gefühl bekommen, seine gewaschenen, feucht und schwer gewordenen
Gedanken im frischen Wind trocknen zu müssen. Anders als Nietzsche wollte Max Loewe seine
künftigen Leser nicht zu Schülern, sondern zu Verbündeten machen, die mit ihm
unmittelbar und von Anfang an auf Entdeckungsreise gehen sollten, statt nur von
den Ergebnissen erzählt zu bekommen. Max hielt sich für zu jung, um glaubhaft
einen Propheten zu mimen. Er wollte mit offenen Karten spielen, unverstellten
Einblick in die Genese seines Denkens bieten. Empathie erzeugen, wie es Goethes
Werther, jene andere epochal-sonderbare Figur, geschafft hatte. Damals hatten
sich Hunderte Jugendliche umgebracht, das sprach schon für ein Buch, auch wenn
Goethe danach sein Talent daran verschwendet hatte, den eigenen Mythos vom
Großkünstler geschickt zu manifestieren und echte Großkünstler wie
Hölderlin zu schikanieren. Goethe, der Hitler der deutschen Literatur, war nie
wegen Massenmords angeklagt worden. Erstaunlich. Und der kleingeistige Kleist,
dem auf Erden nicht zu helfen war, brachte – leider – lieber sich selbst um als
diesen ihm so verhaßten eitlen Popanz. Kleist war eben Mittelmaß. Zu keiner
Großtat fähig. Max sah die Malaise klar vor sich. Niemand hatte sich aufgerafft,
Goethe zu ermorden, niemand würde sich aufraffen, Hitler zu töten. Das alles
lag im Wesen der Deutschen begründet. Sie wollen fallen, hereinfallen auf
jemanden, nicht herausfallen aus einem sinkenden Schiff. Da könnten sie ja
vielleicht ertrinken, auf offener See.
    Manchmal gab Max in den Gesprächen mit dem Marquis
Andeutungen von sich, wie er die Geschichte der deutschen Literatur, quasi in
einem großen Berufungsprozeß, neu beurteilen wollte. Der Marquis jedoch erwies
sich als kein vielversprechender Verbündeter, er hielt Goethe für einen Gott,
dem die Franzosen nichts Ebenbürtiges entgegenhalten könnten, trotz Rousseau,
Montaigne und Diderot. Höchstens vielleicht – auf anderer Ebene – de Sade. Doch
dessen Zeit sei noch nicht gekommen. Max hatte vom Marquis de Sade nie etwas
gelesen, Raymond lieh ihm die Erstausgabe der Justine – und Max äußerte
bei der Lektüre mehrmals ein herzhaftes Oho, erstaunt darüber, welches Maß an
Verdorbenheit eine Epoche hervorbringen konnte, die er bis dahin in erotischer
Hinsicht als eher unbedarft beurteilt hätte.
    So kam ich unter die Franzosen. Lange Zeit stand nur
dieser erste Satz fest, eine Hommage an Hölderlins Hyperion . Bis Max
umdachte. Der erste Satz eines ersten Romans mußte etwas Eigenes sein,
originell und kraftvoll, mußte ein Tor in eine neue Welt aufstoßen – und viele
Leser würden die Anspielung vielleicht gar nicht verstehen. Zudem klang der
Satz frankophob und erklärungsbedürftig. Wie bin ich denn unter die Franzosen
gekommen? Zufällig? Nein, ein Münzwurf hat darüber entschieden. Paris war der
Kopf und London der Adler. Warum nicht diese Information an den Anfang stellen?
Das hatte doch etwas Verspieltes, Luftig-Leichtes. Andererseits – wirkte es für
einen Menschen, der Stoßkraft und Würde seines Willens hochhalten wollte, nicht
allzu ohnmächtig-devot, sich zum Spielball einer Scheibe Kleingelds zu machen?
War damit etwas von jener Heideggerschen Geworfenheit ins Leben kapriziös
variiert? Gar parodiert?
    Alles hat zwei Seiten, auch die Kugel. Eine Seite, die sichtbar, und
eine, die unsichtbar ist. Wir können sie drehen und wenden, wie wir wollen, das
Ganze ergibt sich immer als Summe aus dem Sicht- und Unsichtbaren. Wie genau
wir das eine auch kartographieren, vermessen und beleuchten, so ungewiß werden
wir uns des anderen sein. Eine Münze entschied darüber, ob ich in Paris oder in
London sein würde. Vielleicht gibt es neben mir noch jenen anderen, der gerade
in London sein Heil und einen Halt im Leben sucht. Ich hingegen kam unter die
Franzosen, muß mich mit dem Abfall des Faktischen

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