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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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einer besonders beeindruckenden Attacke auf dem
Königsflügel anerkennend in die Backe kniff – schon läuteten in Karl
Alarmglocken und er fand, daß Schluß sein müsse, ein für allemal, mit diesem
lullenden Schattenleben auf Kaffee-und-Kuchen-Basis. Er hatte nicht den Mut,
Marmaton seine Entscheidung
mitzuteilen, er ging einfach nicht mehr hin. Marmaton wartete vier Wochen lang,
dann stellte er in die Auslage das alte, vom Pfeifenrauch gilbig gewordene
Schild: SCHACHPARTNER GESUCHT. BIETE KAFFEE UND
ZWEI FRANCS PRO STUNDE . Aber jeden neuen Spielpartner komplimentierte er
alsbald aus seinem Laden. Zu oft handelte es sich um Nichtskönner, denen es
einfach nur um zwei Francs und einen Becher heißen Kaffee ging. Der Antiquar
trauerte um Karl wie um einen verlorenen Sohn, er nahm zu dessen Gunsten – vielmehr Ungunsten – an, daß er
als unerwünschter Ausländer bei Nacht und Nebel expediert worden sei. Um
dies zu verhindern, hätte er dem jungen Deutschen sogar eine Adoption
angeboten, denn er besaß keine Erben, bis auf einen Cousin in Marseille, den er
kaum kannte.
    Karl fühlte sich bald etwas besser. Im Sommer in Paris zu
leben ließ keine Trübsal zu, auch wenn nicht alles lief wie erhofft. Sich
einfach irgendwo niederzulassen und das Treiben der Menschen in diesen
wunderschönen Straßen zu beobachten genügte als Mittel gegen jede Form der
Langeweile.
    Karl entwickelte sich nach der Abfuhr durch Ellie nicht, wie man
leicht hätte annehmen können, zum Bordellbesucher, noch masturbierte er öfter
als zuvor. Musterhaft gelang ihm, was so vielen katholischen Priesteranwärtern
partout nicht gelingen wollte, nämlich den eigenen Sexus als hormonelle
Zumutung, als Angriff auf seinen freien Willen zu begreifen, dem man mit
Entschiedenheit entgegentreten mußte, um objektiv zu bleiben und keiner zweiten
Marie Dressler entscheidenden Einfluß zu gönnen. Karl mutierte, ob aus
verletztem Stolz oder aus innerer Einsicht, zu einem geschlechtslosen Wesen,
das alle ihm offerierten Angebote, die es unter großstädtischen Bedingungen,
zumal bei Nacht, in den dafür vorgesehenen Lokalitäten zuhauf gegeben hätte, in
den Wind schlug. Ihm kam es nicht so vor, als würde er etwas verpassen. Im
Gegenteil, er sortierte bewußt alles aus, das ihm nur billige Befriedigung
versprach, wenngleich er die Möglichkeit, doch einmal der idealen Gefährtin zu
begegnen, nach wie vor heilig hielt.
    Abends gingen die drei oft aus und suchten Anschluß an
Künstlerkreise. In ihrer Vorstellung von Paris gab es überall Ecken und Winkel,
wo sich bedeutende Menschen zum Gedankenaustausch trafen, Wein tranken, sich
die Köpfe heißdebattierten und Manifeste ersannen, Aktionen, gar Umsturzpläne.
Vielleicht war das so. Irgendwo. Vielleicht wollten diese bedeutenden Menschen
unter sich sein und trafen sich im Verborgenen. Es gab Lokale, in denen
regelmäßig und eifrig politisiert wurde, meist aber von eher unbedeutenden
Proleten, Bauernfängern oder Burschenschaftsstudenten, die auf Promille und
Randale aus waren.
    Die drei gingen in die Theater, in die großen und die kleinen, in
die Lichtspielhäuser, ergötzten sich an Greta Garbo und am Grand Guignol, saßen
in Cafés und in den großen Wirtshäusern der Porten, hörten sich in verrauchten
Spelunken Jazz-Combos an oder besuchten Avantgarde-Konzerte, wo Musik gespielt
wurde, die im deutschen Reich als entartet gegolten hätte. Sie hätten es nie
zugegeben, um nicht als ignorant zu gelten – aber vieles von dem, was da
Tonkunst der Zukunft zu sein behauptete, bahnbrechend und neu, wirkte auf die
Gebrüder Loewe nicht anders als sinnlos quälender Lärm. Das sei sehr
interessant gewesen, sagten sie einander hinterher. Und nickten bedeutsam. Auf
musikalische Erziehung war in ihrer Familie nie übertrieben Wert gelegt worden.
Karl hörte gern traurige Schubert-Lieder und Max die glitzernden Klavierstücke
Chopins; darüber hinaus hatten sie sich selten mit klassischer Musik
beschäftigt, und wenn, dann nur deshalb, weil das ihrer Meinung nach zum
geistigen Repertoire eines intellektuell kompletten Menschen gehörte. Max, der
als Nietzscheaner doch eigentlich verpflichtet gewesen wäre, sich ein Urteil
über Richard Wagner zu bilden, behalf sich mit Nietzsches striktem Verdikt über
den einst anscheinend großen, dann zum Christentum und zum Antisemitismus
abgedrifteten Komponisten. Der Beginn von Also sprach Zarathustra von Richard Strauss, das war seine Erbauungsmusik, Carmen von Bizet

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