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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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neuen Pragmatiker mit ihrer im
Grunde schlichten Denkungsart lag zweifelsohne darin begründet, daß ihnen viele
Einblicke in die menschliche Psychologie zur Verfügung standen, von denen Marx
und Engels noch kaum etwas hatten ahnen können.
    Karl setzte sich in den Lesesaal der Universität und entwarf
handschriftlich die Skizze eines Buches, in dem ein junges verliebtes Paar,
ohne Bildung und Arbeit, in bewegten Zeiten ein Nest für sich bauen und
zugleich seine Würde behalten wollte. Durch Gespräche miteinander sollten sie
ihre Situation analysieren, gegenseitige Kritik und Selbstkritik üben, ohne
pädagogischen Zeigefinger, sollten ruhig auch einmal Fehler machen, bis sie aus
eigenster innerer Logik den Entschluß fassen würden, sich politisch auf seiten
der Arbeiterklasse zu engagieren. Er schrieb sogar ein paar Kapitel; seine
Gemütslage besserte sich deutlich. Und verschlechterte sich wieder, als er die
Kapitel noch einmal las. Das war alles steif und langweilig, leblos und
blutleer.
    Max hörte davon und gab seinem Bruder Kleiner Mann – was nun? zu
lesen, von Hans Fallada. Karl staunte. Genau dieses oder ein sehr ähnliches
Buch hatte er schreiben wollen, traurig, witzig, raffiniert, es war kaum ein
einziges Mal didaktisch, im Gegenteil, scheinbar unpolitisch, aber wahr und
poetisch, dabei immer auf dem Boden der Tatsachen, geerdet, mit einem enorm
liebevollen, dennoch präzisen Blick für die üblichen menschlichen Schwächen.
Ein Welterfolg, ein Meisterwerk, das er nie in die Hand genommen, weil er es
aufgrund seiner hohen Verkaufszahlen als trivial vorverurteilt hatte. Und weil
es die Nazis weder verboten noch verbrannt hatten. Karl erkundigte sich nach
dem Autor, stellte entsetzt fest, daß der allem Anschein nach in Deutschland
geblieben war. Und nicht einmal im Zuchthaus saß, geschweige denn im KZ . Wie war das möglich? Verwirrt und entmutigt stellte
Karl seine Schreibversuche vorläufig ein.
    Und schlich wie ein ausgedünnter Schatten seiner selbst durch einen
Spätsommer, dessen Idyll ihn beinahe anwiderte, besonders wenn ihm junge
Menschen begegneten, die ohne ersichtlichen Grund Spaß am Leben hatten,
tanzten, lachten und tranken.
    Seine Ersparnisse wurden Woche für Woche dezimiert, dahingerafft,
ihm graute davor, Max und Ellie bald auf der Tasche zu liegen, dabei besaß er
immer noch mehr an Barem als beide zusammen. Nur nahmen sie ständig etwas Geld
ein, wenn auch nicht viel, er dagegen gab immer nur aus, und man mußte nicht
Mathematik studiert haben, um vorherzusehen, wohin das führen würde.
    Es hätte selbst für Ausländer ohne gültige Papiere Jobs gegeben, zum
Beispiel als Tellerwäscher in einer der monströsen Küchen der großen Hotels.
Doch Arbeitszeiten von täglich 13 Stunden bei bis zu 40 Grad Hitze wirkten
abschreckend auf Karl, der körperliche Arbeit nur vom Hörensagen kannte.
    Gerade, als er vor Kummer begann, den Menschen, und zwar allen
Menschen, denen er begegnete, auf die Nerven zu gehen, geschah ein kleines
Wunder. Die Redaktion des deutschsprachigen Pariser Tageblatts nahm einen Text von ihm an. Er
hatte, ohne konkret Namen zu nennen, über Marmaton geschrieben und die
Schachpartien im düsteren Antiquariat, über Butterplätzchen und Kaffee, über
die Sportlichkeit und Versöhnungsbereitschaft des Bretonen, dessen Vater im
Krieg durch eine deutsche Kanone ums Leben gekommen war. Über das Schachspiel
an sich, das ein für den Pazifisten von heute angemessenes Mittel sei, seine
Aggressionen wie auch seine Kreativität auszuleben und sich mit Gegnern aus
aller Welt zu messen, ohne unbedingt deren Sprache zu beherrschen. Er hatte
Lenin zitiert: Schach
ist Gymnastik des Geistes und des Verstandes.
    Es war ein harmloser Artikel ohne hohe Ambition, der dem verlorenen
kleinen Idyll nachtrauerte und dem Leser zu Herzen ging, durch die literarisch
präzise Beschreibung einer für Paris typischen Szenerie.
    Das menschelt, befand der Redaktionsassistent, ein Herr Müller, das
trieft ja geradezu vor Gemüt! Sowas können wir brauchen. Für eine
Dezemberausgabe. Derlei können Sie uns gern öfter mal bringen. Bisher war ihm
der junge Mann nur durch unreif-freigeistige und ausufernde Salbadereien
aufgefallen, ebenso überspannt wie – das hätte Karl indes von sich gewiesen –
trotzkistisch angehaucht.
    Das Honorar, fünfzig Francs, bekam Karl im voraus
ausbezahlt, es war nicht viel, und der Text wurde dann auch noch um seinen eher
theoretisch-meditativen Teil gekürzt,

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