Nicht ganz schlechte Menschen
Hundertzwanzig Francs, sagst du?
Der Preis scheint mir angemessen.
In der Tat. Mir bleiben so wenige Jahre, das ist nicht Zeit genug,
um zu feilschen. Wollen wir deinen Fund einweihen? Heute noch?
Heute nicht. Und morgen auch nicht.
Wie muß ich das denn nun auffassen?
Ich stehe dir nicht mehr zur Verfügung, Raymond.
Nein?
Tu bloß nicht so erschrocken. Du warst mit mir durch. Alles hat
seine Zeit, ich noch etwas mehr, du wohl etwas weniger. Unsere ist vorbei.
Ach so?
Ich besorg dir was Frisches. Keine Angst. Ich sehe ja die Gier in
deinen Augen. Du wirst zufrieden sein.
Max überreichte Raymond ein Kärtchen des Hotel Monbijou .
Am nächsten Tag um zwei Uhr fand sich der Marquis in dessen
Hinterhof ein, wo schon ein junger Mann wartete, den Max am Abend zuvor in der
Toilette der Cosy-Bar begutachtet und für passend befunden hatte.
Sie sind mein Sekretär?
So lautete das Codewort. Pierre hatte Max zuvor den Schlüssel für
das Zimmer Nummer 27 ausgehändigt, und der hatte ihn an Raymond weitergegeben,
auf der Straße, im Vorübergehen.
Ja, der bin ich. Und bereit zum Diktat.
Dem schlanken Vorstadtknaben aus Neuilly waren dreißig Francs Salär
in Aussicht gestellt worden. Dafür hätte er noch einiges mehr getan als das,
was nun von ihm erwartet wurde. Hinterher zeigte sich der Marquis rundum
zufrieden. Drei Geldscheine à fünfzig Francs hatte er in das Nachtkästchen
gelegt, Trinkgeld inbegriffen – und am Abend dieses rundum gelungenen Tages
holte sich Max seinen Anteil von Pierre, der über die Vorgänge in seinem Hotel
gar nichts Genaueres wissen wollte. Wenngleich er annahm, daß Max, er selbst
und kein anderer, in aller Stille, eine Affäre mit einer Frau aus begüterten
Kreisen auslebte. Das machte ihm seinen künftigen Schwager erst recht
sympathisch. Zuvor hatte er Max gegenüber eine quälende moralische
Minderwertigkeit verspürt. Die nun verpuffte.
Pierre betrat selten vor halb elf Uhr abends seine
Privatwohnung in der Rue Gabrielle. Julie, seine Frau, war dann meist schon zu
Bett gegangen und hatte das Licht im Schlafzimmer gelöscht. Manchmal wurde es
nach Mitternacht, bis er zu ihr kroch. Ohne sich durch eine Anrede geschweige
denn eine Liebkosung bemerkbar zu machen, tastete er sich im Dunkelen zu seiner
Seite des Bettes, schlüpfte unter die Decke und schlief schnell ein. So
vergingen oft mehrere Tage, ohne daß das Paar irgendein Wort miteinander
wechselte.
Womit Julie sich ihre Zeit vertrieb, wußte er nicht. Daß sie
fremdging, hielt er für sehr unwahrscheinlich aufgrund ihrer völligen sexuellen
Unlust. Und selbst wenn, es wäre ihm egal gewesen. Vielleicht nicht ganz egal,
denn es bestand die theoretische Möglichkeit, daß im Fall einer Scheidung Julie
als die Schuldige verurteilt werden würde. Andererseits war Pierre Geising kein
ganz schlechter Mensch, und er hätte seiner Frau eine solch brachiale bis
heimtückische Form der Trennung nie zugemutet. Aber daran, daß diese Ehe
nurmehr eine Farce war, bestand kein vernünftiger Zweifel. Ihrer beider Weg war
längst kein gemeinsamer mehr, es ging einzig darum, wie und wann man das einmal
zur Sprache brachte. Konnte Julie denn ernsthaft glücklich sein mit dem
momentanen Zustand? Womöglich war dem so, sie hatte sich bisher nie beschwert.
Ob sie ahnte, daß Pierre hinter ihrem Rücken etwas laufen hatte?
Wenn sie von Verstand war: ja. Sie mußte doch von seinen Sehnsüchten
und Bedürfnissen wissen, die so oft Anlaß zu Debatten und Streitereien gegeben
hatten, bevor der Streit einem stummen Zorn, danach einem phlegmatischen
Schweigen gewichen war. Seit nunmehr fünf Jahren verweigerte sich Julie ihrem
Gatten. Seit ungefähr viereinhalb Jahren verzichtete Pierre darauf, Julie mit
jenem Paragraphen des Gesetzes zu konfrontieren, der ihm ein Mindestrecht auf
ehelichen Verkehr zugestand. Wie oft genau, das wurde von den Gerichten
unterschiedlich definiert. Im Durchschnitt ging man davon aus, daß sich die
Ehefrau, sofern keine besonderen Gründe vorlagen, mindestens einmal pro Woche
dem Mann zur Verfügung stellen mußte, wollte sie den Ehefrieden nicht boshaft
unterlaufen.
Nein, Pierre war ganz sicher – Julie, die mit ihren bald vierzig
Jahren eine nach wie vor beachtens- und begehrenswerte Frau war, die immer noch
ihre Taille besaß und eine makellose helle Haut, mußte einfach annehmen, daß er
sie betrog. Sie nahm es demnach hin, erhob keinerlei Einspruch dagegen,
verwirkte fahrlässig ihre angestammten Rechte, in
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