Nicht ganz schlechte Menschen
ist,
sondern in Menton die Nacht zum Tag macht? Warum wollte sie nicht zum Zug
begleitet werden? Wer weiß, wohin sie gefahren ist?
Pierre reagierte ob jener Erwägungen entsetzt, und es fehlte nicht
viel, daß er grob geworden wäre. Erst nach und nach begann er Ellies Motiv zu
verstehen, zu ihren Gunsten zu deuten, als Hilfestellung, als Vorschlag, um mit
der Zumutung dieses angekündigten Todes besser fertigzuwerden. Natürlich –
unvorstellbar sei ja nichts auf dieser Welt –, immer müsse man selbst das
Entlegenste bedenken.
Hat sie in deinem Beisein je gehustet oder Blut gespuckt?
Tatsächlich, nein, das hatte Julie nie getan.
Aber das ist doch sonderbar. Laß dich bloß mal nicht veräppeln. Ich
mein ja nur.
Ellie brachte es mit ein paar Sätzen fertig, daß Pierres Gedanken
sich nicht mehr an Wahrscheinlichkeiten orientierten, sondern an
unrealistischen, beinahe theatralischen Optionen. Wirklich geholfen war ihm
dadurch recht wenig.
Ob Julie bald sterben würde oder es sich, in der Wärme des Südens,
vielleicht auch am Nordpol, gutgehen ließ, mit einem Liebhaber, keines jener
Szenarien wäre angenehm und leicht zu verkraften gewesen. Pierre behalf sich,
wie die meisten Menschen, denen zu viele Konjunktive eine Wahl vorgaukelten,
mit Pragmatik. Was in der entstandenen Realität allein zählte, war doch, daß er
seiner Geliebten eine konkrete Aussicht bieten und sie nahe bei sich haben
konnte. Er bat also Ellie, zu ihm in die Rue Gabrielle zu ziehen. Na schön, ein
paar Nachbarn würden sich das Maul zerreißen, das war zu ertragen.
Und wenn sie stirbt, nimmst du mich zur Frau?
Selbstverständlich. Nach der Trauerzeit.
Wie lange wär die denn?
Zehn Monate.
Und wenn sie nicht stirbt?
Dann, ja dann … freuen wir uns erstmal, denke ich, was soll ich dazu
bitte sagen? Pierre murmelte etwas davon, daß echte Liebe nicht über Leichen
gehen müsse, man diskutiere im Endeffekt über Formalien, nichts weiter.
Ellie besprach sich mit Max.
Pierre möchte mich in seiner Nähe haben. Ich soll zu ihm ziehen und
den Platz seiner Frau einnehmen.
Das möchtest du nicht. Kommt nicht in Frage, nein. Sag ihm, das
fändest du degoutant.
Weswegen?
Na, weil … Max stockte, ihm fielen nur Begründungen ein, die
spießbürgerlich klangen.
Weil ich das nicht will. Punktum.
Und das soll ich ihm so sagen?
Nein, du sagst ihm, du könntest nicht in eine Wohnung ziehen, in der
du dich wie eine Einbrecherin fühlen müßtest, weil noch überall das Parfüm
deiner Vorgängerin aus den Schränken und Schubladen strömt. Beruf dich, wenn
sonst nichts hilft, auf Gott. Sag ihm, daß du einen Mordsrespekt hast vor der
heiligen Institution Ehe, etwas in der Art.
Ja, gut.
Ellie freute sich maßlos über Max’ Eifersucht. Um ihn bei Laune zu
halten, um ein kleines Lächeln von ihm zu erhaschen, berichtete sie von Pierres
anhaltender Impotenz.
Wie ein kleines Mädchen von einem Besuch beim Zahnarzt berichtet. Er
hat überhaupt nicht gebohrt. Ellie fand das witzig. Selbst beim dritten und
vierten Mal. Max schüttelte nur enerviert den Kopf. Manchmal fragte er sich,
wie um Himmels Willen er ein so simples, grob geschnitztes Stück Mensch lieben
konnte. Dann wieder fand er es ganz natürlich, denn Ellie war eben da, besaß
ihre Qualitäten.
Man liebt, was um einen und für einen da ist. Liebt, was einen
liebt. Sofern man es nicht haßt. So einfach.
Und mochte das alles auch etwas komplizierter sein, er hätte keine
sinnvollen Worte gefunden, um den Sachverhalt besser und präziser auszudrücken.
Pierre reagierte enttäuscht, wirkte aber auch beeindruckt
von Ellies Prinzipien. Im Nachhinein kam ihm seine Offerte leichtfertig,
unannehmbar bis geschmacklos vor. Er hatte schlicht nicht genügend darüber
nachgedacht, was es bedeuten würde, einer Frau das unausbleibliche Getuschel
der Nachbarn zuzumuten. Wenigstens schien Ellie nicht an der Ernsthaftigkeit
seiner Absichten zu zweifeln, und seine nachlassende Fähigkeit, sie in
physischer Hinsicht zu befriedigen, nahm sie ihm nicht weiter übel.
Auf Zanoussis Vermittlung hin lernte Karl bald einen der
wenigen echten Intellektuellen der Anarchisten kennen, Diego Abed de Santillán,
ein wichtiger, vielbeschäftigter Mann, ein Literat, der in Berlin Medizin
studiert hatte und etwas Deutsch sprach.
Er ist Pazifist wie du, vielleicht redet ihr mal miteinander. Hatte
Zanoussi vorgeschlagen. Santillán war von seinem Rang her eine Art Minister und
mitverantwortlich für den
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