Nicht ganz schlechte Menschen
einer beinahe beleidigenden
Gleichgültigkeit. Je länger Piere darüber nachdachte, desto weniger hatte er
sich vorzuwerfen. Im Grunde würde sich durch eine Scheidung kaum etwas ändern.
Julie würde versorgt sein, ihr Leben, woraus genau es auch bestand, fände nur
eben anderswo statt. Seinetwegen konnte sie sogar die Wohnung behalten. Dann
würde sich für sie fast gar nichts ändern.
Einige Male wachte Pierre mitten in der Nacht auf und war nahe
daran, Julie zu wecken, um sie über die kommenden Veränderungen in Kenntnis zu
setzen. Dann wieder kam es ihm unfair vor, eine Schlaftrunkene mit einem
Übermaß an Information zu überrumpeln, und er verschob die fällige Aussprache
auf den jeweils nächsten Sonntag. Sonntags pflegten Pierre und Julie in die
Kirche Sacré-Cœur zu gehen. Hierbei ergab sich die gewöhnlich beste Gelegenheit
für einen Dialog. Oft ging sie ungenutzt vorüber, mit dem Austausch von banalen
Kleinigkeiten, die der Rede nicht wert waren. Ein paarmal auch, weil Pierre die
nötige Portion Mut nicht aufbrachte oder er sich Ellies Gefühle noch nicht
sicher gewesen war.
Jetzt – Anfang Oktober – dachte Pierre an den kommenden Winter, an
Nächte, die er mit Ellie verbringen wollte statt mit seiner eiseskalten
Fehlentscheidung von einst. Gleich würden sie die Kirche betreten, und Pierre
hatte ins Kalkül gezogen, daß seine sehr gläubige Frau ihm im Inneren eines
Gotteshauses sicher keine hysterische Szene machen würde.
Nein, zur Hysterie neigte sie nicht, das konnte man Julie zugute
halten. Ihre Leidenschaftslosigkeit war allumfassend.
Wir müssen etwas besprechen, begann er, und die Worte klebten ihm
auf der Zunge, er spuckte sie wie Tabakkrümel von den Lippen.
Eben wollte ich dasselbe sagen, entgegnete Julie, und ihre sanften,
kornblumenblauen Augen musterten ihn.
Aha? Dann du zuerst. Pierre war ein höflicher Mensch.
Ich werde sterben. Schon bald. Dann bist du mich los.
Wie bitte? Er glaubte, sich verhört zu haben, denn der sachlich
leise Ton des Gesagten korrespondierte so wenig mit seinem Inhalt.
Ich war bei Dr. Leroux. Er hat meine Lungen untersucht. Ich habe
noch ein paar Monate. Bei einem Klimawechsel vielleicht etwas mehr. Ich werde
nach Menton ziehen, an die Küste, ins Ferienhaus meiner Eltern. Und wünsche
dort ungestört zu sein. Keine Besuche bitte. Machen wir uns nichts vor.
Die Besucher strömten eben in die Kirche, die Glocken läuteten.
Pierre war unfähig, irgendein Wort hervorzubringen, er faßte Julie bei der
Hand, sie entzog sich der Berührung und setzte sogar ein Lächeln auf.
Sag nichts Falsches. Sag einfach nichts. Ich reise im Lauf der Woche
ab, wir werden uns nicht wiedersehen. Was war es, was du mit mir besprechen
wolltest?
Nichts von Belang. Ich meine, warum lenkst du ab? Wie kannst du –?
Julie legte zwei Finger auf seine Lippen.
Es ist alles gut, wie es ist. Wir sind in Gottes Hand.
Drei Tage danach brach Julie in den Süden auf. Es gab
einen stillen Abschied, bei dem Pierre die Tränen in den Augen standen. Julie
umarmte ihn kurz, er verstand das als eine Geste der Vergebung. Sie wollte
nicht zum Zug begleitet werden. Die Pferdedroschke, vollgepackt mit etlichen
ihrer Habseligkeiten, wartete bereits. Julie sah sich nicht noch einmal um.
Pierre überlegte lange, wie er mit dieser gespenstischen
Situation umgehen sollte. Er konnte seiner Frau zum Beispiel schreiben, lange,
innige Briefe, es gab Ärzte, bessere Ärzte, Koryphäen, Zweit- und
Drittgutachten, spontane Heilungen, die Meerluft bewirkte oft Wunder, kurzum,
Pierre schämte sich bis auf die Knochen, statt zuzugeben, wie sehr ihm das
alles zupaß kam. Über Wochen hin war es ihm unmöglich, mit Ellie zu schlafen.
Jeder Erektion wurde durch drängende Schuldgefühle das Blut entzogen. Er
berichtete Ellie, schon allein, um seine Impotenz zu erklären, von Julies
Krankheit. Wenn es etwas Gutes daran gebe, so sei es die Freiheit am Horizont,
für die Lebenden. Ellie faßte das als einen makabren Heiratsantrag unter
Vorbehalt auf.
Sie neigte so gar nicht zum Pathos, auch mißfiel ihr, mit einer
sterbenden Schönheit zu konkurrieren. Obgleich sie nie ernsthaft erwogen hätte,
jemals Julies formelle Nachfolgerin zu werden, liebäugelte sie doch mit der
Möglichkeit, als gäbe es eine zweite Ellie, die ungebunden war und keine
Rücksicht auf Max nehmen mußte. Auf Pierres Gefühle nahm sie schon gar keine
Rücksicht.
Was, wenn sie dich einfach satt hat? Wenn Julie gar nicht krank
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