Nicht ganz schlechte Menschen
1921. Eine schöne Zeit. Ein Schwarm von Erinnerungen kehrte
zurück. Pierre zögerte, er wollte Julie weder überfallen noch ihr sein Kommen
per Postkarte oder Telegramm ankündigen. Er hätte sich, würde sie nach dem
Grund seiner Reise fragen, Sorgen gemacht, weil sie keinen Brief beantwortet
habe. Das sei doch Grund genug. Im übrigen wäre es viel eher an ihr, sich zu
rechtfertigen. Was war das denn für ein Benehmen, alle Brücken zu ihrem alten
Leben abzubrechen, sich ihrem liebenden Gatten zu entziehen, unter dem Vorwand
einer Krankheit? Nein, der letzte Satz mußte umformuliert werden. Sich ihrem
von Kummer geplagten Gatten zu entziehen, gerade im Fall einer
ernsten und lebensbedrohlichen Krankheit. So würde er seine Ankunft
rechtfertigen.
Das alte, vor wenigen Jahren generalrenovierte Haus schimmerte in
der Sonne. Die grellweiß gestrichene Fassade mit den himmelblauen Fensterläden
hätte dem Idyll einer ägäischen Insel entsprungen sein können. Nur das
Spitzdach aus ockerfarbenen Ziegeln und der mit vielen Gemüsesorten und
Blumenbeeten reich bepflanzte Nutzgarten beeinträchtigten die fast arkadische
Aura des Feriensitzes mit seinen insgesamt acht Zimmern auf zwei Stockwerken.
Pierre konnte gut nachvollziehen, daß sich jemand, dessen Tage gezählt waren,
diesen Ort ausgesucht hatte, um mit dem Tod, oder mit dem Leben, wie auch
immer, ins reine zu kommen. Aber würde man sich nicht als einzelne Person auf
Dauer verloren und einsam vorkommen in diesem riesigen Haus? Julie würde sicher
vor Ort Personal angestellt haben, sie reagierte allergisch auf Staub – und
hier unten im Süden gab es riesige Spinnen, vor denen sie sich ekelte. Den
Garten mit den eigenen Händen zu bestellen, und selbst jetzt, im Dezember, gab
es etliches Unkraut zu jäten, traute Pierre seiner Frau durchaus zu, sie war
nicht so zart und zerbrechlich, wie man auf den ersten Blick annahm. Von außen
wirkte das Haus weder verwahrlost noch bewohnt, kein Fensterladen stand offen.
Es war halb zwölf Uhr morgens, konnte es sein, daß Julie noch schlief? Konnte
es sein, daß sie sich vielleicht gar nicht in diesem Haus aufhielt? Nicht in
Menton, nicht einmal in Frankreich? Pierre hatte viele Eventualitäten angedacht
oder sich mehr oder minder farbig ausgemalt, er war auf alles gefaßt, sogar auf
sehr schmerzhafte Szenarien, inmitten derer er wie ein trotteliger Komparse
herumstehen würde. Vielleicht, diese Möglichkeit erwog er erst jetzt, war Julie
bereits gestorben und irgendwo hinter der blendendweißen Fassade in Verwesung
begriffen. So vieles war denkbar. Wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Pierre
öffnete die Gartenpforte und ging den mit rotem Roussillon-Sand bestreuten Pfad
entlang zur Haustür. Es gab keine Klingel, nur ein überdimensioniertes
bronzenes Hufeisen, mit dem man gegen das Holz pochen konnte. Pierre zögerte,
es zu benutzen. Sich auf diese Weise anzukündigen, kam ihm brachial vor. In
diesem Moment – endlich – wußte er genau, weshalb er hier war. Es ging nicht
darum, Julie bei irgendeiner Verfehlung zu ertappen oder ihr im Kampf gegen die
Krankheit beizustehen. Das eine wäre kleinlich, das andere nicht praktikabel
gewesen. Pierre wollte einen inneren Frieden finden, sich mit der Person, die
ihm einmal viel bedeutet hatte, aussöhnen. In Paris war ihm das nicht möglich
gewesen, der Schock hatte ihm die Zunge gelähmt, er hatte neben sich gestanden,
hilflos, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nun nahm er das schwere
Hufeisen in die Hand, hob es an, ließ es fallen. Und erschrak bei dem
mächtigen, hohlen Geräusch.
Er trat zwei Schritte zurück. Im Inneren des Hauses schien nichts
und niemand auf das Klopfen zu reagieren. Plötzlich hörte Pierre eine Stimme in
seinem Rücken.
Wer sind Sie und was wollen Sie?
Er drehte sich um. Eine uralte Frau in weiten Röcken schlurfte ihm
entgegen, stützte einen Arm auf die Gartenpforte und blieb da stehen, als würde
sie nicht wagen, den Garten zu betreten. Eine braungebrannte Greisin hatte das
Wort an ihn gerichtet. Sie sah einer Märchenhexe gleich, und die monströse
wollene Mütze, die sie auf dem Kopf trug, verstärkte den Eindruck. Das Weib sah
aus, als balancierte es einen runden Laib Brot auf dem Kopf. Ebenso unangenehm
war ihre knarzig-keckernde Stimme. Pierre tat einige Schritte auf sie zu, um
die Lautstärke des sich anbahnenden Gesprächs zu senken. Es half nichts. Das
Keckern wurde nicht leiser.
Haben Sie hier was verloren?
Ich komme aus
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