Nicht ganz schlechte Menschen
Element der
Bourgeoisie zu begreifen, war die Revolution, die so groß und beeindruckend
begonnen hatte, längst zum Stillstand gekommen. Immer mehr Arbeiter forderten
eine rote Armee. Hinzu kam, daß die Zentralregierung den Anarchisten nur die
jeweils nötigsten Lieferungen an Waffen und Munition zugestand. Allein mit
ihrer Unerschrockenheit, ihrem ungebrochenen Kampfeswillen, war an der Front
kein Meter Boden gutzumachen. Die CNT hatte bis dahin etliche ihrer eisernen
Grundsätze geopfert, ohne aus diesen Zugeständnissen an die Lage wenigstens
irgendeinen Gewinn zu erzielen. Ende September akzeptierte sie drei
unbedeutende Ministerien in der katalonischen Regionalregierung. Am 9. Oktober
wurden mit ihrer Zustimmung alle Komitees und Räte aufgelöst, und am 4. Dezember stellte die CNT sogar drei Minister in der Zentralregierung von
Madrid. Es handelte sich jedoch um Kabinettsposten zweiten und dritten Ranges,
von marginaler politischer Wirkung. Am 17. Dezember 1936 bereits meldete die
Prawda
, daß
in Katalonien die Säuberung von Trotzkisten und
Anarcho-Syndikalisten begonnen habe, sie werde mit derselben Energie wie in der
Sowjetunion durchgeführt.
Eine
scheinbar prahlerische Meldung, die zum Zeitpunkt ihrer Publikation bei den
Anarchisten für Heiterkeit sorgte. Erst im Februar/März 1937 wurde vielen die
Lage bewußt, und es kam zu offenen Differenzen zwischen der Basis der CNT und
ihren inkompetenten Funktionären. Als Verteidigungsmaßnahme wurde eine
fanatische Kampfgruppe namens
Die Freunde Duruttis
gegründet, aber auf der
Straße und sogar in den Fabriken dominierten bereits die Stalinisten. Durutti
hatte stets betont, die Sowjetunion sei eben das Gegenteil einer freien
Kommune, sondern ein Staat, wie er im Buche stehe, voller Bürokraten, getragen
von einer Diktatur, der angeblichen Diktatur des Proletariats, einem
Unterdrückungsapparat, der in ein Terrorregime münden könne und müsse.
Moskau
war vor allem daran gelegen, das Beispiel einer geglückten Revolution auf
europäischem Boden zu verhindern. Diesem Zweck wurde selbst der Ausgang des
Krieges untergeordnet.
In
Deutschland war mit dem Ende der Olympiade die kurze Tauwetter-Periode sogleich
und unwiderruflich zu Ende gegangen. Hitler benutzte eine angebliche Bedrohung
seitens Sowjetrußlands als Vorwand, um das Land weiter aufzurüsten. Die neue
Großmacht setzte Ausrufezeichen besonderer Art.
Am
4. November 1936 wurde Etkar André, der trotz jahrelang erlittener Folter bei
seinem Prozeß eine beeindruckende Haltung gezeigt und jeden einzelnen
Anklagepunkt rhetorisch brillant mit beißender Ironie entkräftet hatte,
enthauptet. Ungeachtet aller internationalen Proteste.
Karl glaubte, daß selbst die ansonsten unerschütterlich zu
ihm haltende Ines von seiner Tatenlosigkeit zunehmend irritiert war. Was nicht
stimmte, im Gegenteil, für Ines hätte alles ewig so weitergehen können. Dank
des jungen Deutschen war es ihr möglich, sich als Zimmerwirtin auszugeben, wenn
sie, was öfter einmal vorkam, aufgefordert wurde, ihr zwielichtiges Dasein den
revolutionären Errungenschaften anzupassen, sprich ihrer Profession zu
entsagen. In Eigenregie und ehrenamtlich zogen etliche anarchistische
Aktivistinnen mit Handzetteln und Broschüren durchs Barrio Chino, gerierten
sich kaum weniger moralisch als die Heilsarmee, nur eben aufdringlicher, ja
bedrohlicher. Verdächtige Subjekte unterzogen sie einem Verhör und/oder einer
improvisierten politischen Schulung, die den Prostituierten Aufklärung über und
Wege aus ihrer Verkommenheit anbot. An Ines perlten alle Vorwürfe ab. Ihr
Dasein, sagte sie jeweils, sei durchaus geläutert und von revolutionärem Wert,
sie gebe einem ausländischen Journalisten Obdach. Was sie sonst noch in ihren
vier Wänden tue, sei allein eine Sache ihrer Lust und ihrer Bedürfnisse und
gehe niemanden etwas an. Anarchie bedeute doch zuallererst Freiheit, oder etwa
nicht? Die Frauenrechtlerinnen sahen sich kurz an, zeigten sich von Ines’
Auftreten beeindruckt und entschieden, daß sie in einem solchen Fall nicht
zuständig seien.
Karl war, seit er sich hatte eingestehen müssen, in welchem Ausmaß
ihn die Angst beherrschte, nicht mehr derselbe Mensch. Jegliches
Selbstvertrauen ging ihm verloren, und er mißdeutete winzigste Zeichen, sei es
nur, daß Ines, aus welchem Grund auch immer, ihre Augenbrauen anhob oder sich
auf die Lippen biß, als gälte es, einen Kommentar zu unterdrücken. Seiner
paranoid gewordenen
Weitere Kostenlose Bücher