Nicht ganz schlechte Menschen
Paris, wissen Sie, mir gehört dieses Anwesen. Zum Teil
jedenfalls.
Die Herrschaften sind nicht zuhause. Sind unterwegs. Seit zwei Tagen
schon.
Pierre schluckte. Er hatte Mühe, seine Getroffenheit zu verbergen.
Ach? Wohin sind die Herrschaften denn unterwegs?
Das weiß ich nicht, mir sagen die ja nichts. Nie sagen die mir
irgendwas.
Sind Sie eine Angestellte?
Ich? Nein, was sollte ich denn bitte noch tun, in meinem Alter, mit
all dem Wasser in den Beinen. Sie machen sich lustig über mich!
Und wer ,
wenn ich fragen darf, begleitet Madame?
Na, ihr Mann, wer denn sonst?
Pierre sog die Lippen ein, kaute darauf herum. Er bot der Greisin
ein verknautschtes Karamelbonbon an, das er seit Wochen in der Westentasche
trug. Endlich hatte er eine Verwendung dafür gefunden. Obwohl er nicht sicher
war, ob er wirklich mehr erfahren wollte, stellte er weitere Fragen.
Und wie gut kennen Sie meine … ich meine Madame?
Das alte Weib schnalzte mit der Zunge und ließ das Bonbon
geräuschvoll von einer Backe zur andern gleiten. Wie man sich eben kenne, wenn
man hin und wieder ein Wort unter Nachbarn wechsle, am Gartenzaun.
Und er? Ihr Mann? Was ist das für ein Typ?
Warum fragen Sie denn das? Ach so, Ihnen gehört das Haus, sagten
Sie. Ja dann … Verstehe. Ob Sie gute Mieter haben, wollen Sie wissen? Ich kann
das nicht beurteilen. Ich bin keine, die über Nachbarn herzieht, weiß Gott
nicht. Ich könnte nichts Schlechtes über die beiden sagen.
Pierre überlegte die ganze Zeit an einer Konstellation herum, die
eine weniger dramatische Erlärung liefern konnte. Julie war ein Einzelkind,
hatte keinen Bruder. Ein Cousin vielleicht?
Und die Gesundheit von Madame? Wie steht es um die? Hustet sie viel?
Bei unserer letzten Begegnung schien sie zu kränkeln. Besorgniserregend.
Ach ja? Mir ist nichts aufgefallen. Kommen Sie wirklich extra aus
Paris, um all diese Fragen zu stellen?
Pierre konnte nicht mehr klar denken. Er sagte einfach irgendwas.
Nein, die Wahrheit ist – ich bin ein alter Jugendfreund, auf einer
sentimentalen Reise in die Vergangenheit, verzeihen Sie meine Neugier. Es geht
mich wahrscheinlich nichts an. Adieu. Mit diesen Worten verabschiedete er sich
von der Greisin, lüpfte den Hut und lief den Hügel hinab. Ohne sich vorgestellt
zu haben. Und ohne sich noch einmal umzusehen.
Pierre Geising hätte den Fünf-Uhr-Zug nach Paris besteigen
können. Statt dessen nahm er Logis in einem Hotel am Strand, dem Astoria ,
das Zimmer mit eigener Küche vermietete und für die Vollpension nur 40 Francs
verlangte.
Dort wollte er noch einmal über alles in Ruhe nachdenken. Einfach zu
resignieren, von der Bildfläche zu verschwinden, im Bewußtsein, daß Julie ein
perfides Spiel mit ihm trieb, das ging nicht, jedenfalls nicht sofort. Zorn
hatte sich in ihm aufgestaut, und es dauerte lange, bis er alldem auch eine
positive Seite abgewann. Vielleicht würde er sich nun doch von Julie scheiden
lassen und konnte Ellie, viel früher als erwartet, ehelichen. Daß Julie
vielleicht gar nicht sterben mußte, war ein weiterer positiver, wenn auch nicht
im Vordergrund stehender Aspekt.
Wo mochten die beiden sein, Julie und der Mann, der sich
dreist/geschickt als ihr Gatte ausgab, damit in der kleinen Stadt keine
Gerüchte kursierten. Nizza, Monte Carlo, San Remo, es gab etliche lohnende
Ausflugsziele in der Umgegend. Pierre Geising verschob seine Abreise immer
wieder. Während der folgenden Tage lief er noch oft die Hauptstraße hinauf, zu
den Hügeln, hämmerte mit dem Hufeisen gegen die Tür und erhielt keine Antwort.
Dann endlich gab er auf, fuhr nach Paris zurück und beschloß, Julie aus seinem
Gedächtnis zu streichen. So gut es eben ging.
Karl spazierte an jedem Morgen zum Strand und begann sein
Ertüchtigungsprogramm mit einem Dauerlauf über drei Kilometer. Danach stürzte
er sich ins fünfzehn Grad kalte Wasser, kraulte hundert Meter weit hinaus und
wieder zurück, rieb sich mit einer rauhen Wolldecke ab und schlüpfte in einen
Trainingsanzug. An kleinen Garküchen konnte man sich einen Becher heißen Tee
für zwei Centimos besorgen und geröstete Kastanien, Butterbrote oder einen
Teller Erbsensuppe. Sogar Süßigkeiten wurden für Kleingeld verkauft. Noch litt
Barcelona nicht unter einer ernsthaften Verpflegungskrise. Nur die Milch wurde
hin und wieder knapp. Fleisch gab es selten, aber es war nicht unmöglich,
welches zu bekommen. Hier am Strand war vom Krieg fast gar nichts zu spüren.
Die Menschen kamen mit ihren
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