Nicht lecker, aber Weltrekord
Gesicht verzieht. Sie dehnt es immer gründlich, bevor sie mit ihrem Modern Dance für Mundwinkel, Nasenflügel und Augenhöhlen beginnt. Sie hat die Bewegungen selbst entwickelt und perfektioniert, eine schnelle Abfolge von Irritation, Beleidigung und Rechthaberei, die sich zusätzlich in einem kurzen Schnauben entlädt: »Pah, ich denke, es ist doch klar, dass die Hunde vorher schlafen müssen, bevor man sie wecken kann. Das muss man nicht noch extra erwähnen.«
Ich denke darüber nach und weiß, dass meine Schwester weiß, wie ich dabei aussehe. Ärger, Verblüffung und rückwärts von zehn bis null zählen wird bei mir nur durch ein einziges Stirnrunzeln begleitet. Während meine Schwester die Pina Bausch der Mimik ist, bin ich nie über das Mutter-Kind-Turnen hinausgekommen.
»Lass das, das macht Falten«, sagt meine Schwester, aber nur, um mich vom Grübeln abzuhalten.
Sie schafft es nicht, denn ich entgegne blitzschnell: »Schätzchen, du würdest also auch sagen: Lügen haben … Beine?«
»Weiß nicht. Hab mich sowieso immer gefragt, was das mit den kurzen Beinen überhaupt bedeuten soll?«
Ich nicht. Denn ich weiß es. Weil ich nicht nur viel rauche, sondern auch die Innenseiten der Cañuma-Zigarettenpapierpackungen lese, wo nicht nur Warnungen der europäischen Gesundheitsminister stehen, sondern auch Sprichworte erklärt werden. Also kläre ich mein Schwesterherz auf:
»Oh, das soll wohl meinen, dass man mit kurzen Beinen nicht weit kommt, beziehungsweise schnell eingeholt wird, also, dass die Wahrheit eh rauskommt.«
»Aha.«
Kein anderes menschliches Wesen ist so derart begabt wie meine Schwester, wenn es darum geht, »Aha« zu sagen. Sie kann in diese kurze Buchstabenfolge eine Betonung hineinlegen, dass ich oft versucht bin, meine Schwester heimlich bei der NATO zu bewerben. In der richtigen Stimmung und auf der richtigen Seite könnte sie das Weltgeschehen vielleicht nicht immer verbessern, zumindest aber verkürzen.
Hätte meine Schwester damals im US-amerikanischen Senat gesessen, als Präsident Bush sagte: »Wir sind sicher, dass wir auf irakischem Boden Biowaffen finden werden«, hätte ein von ihr gerufenes »Aha« genügt und Georgie-Boy wäre auf der Stelle eingeknickt. Wahrscheinlich wäre er beim Anblick meiner Schwester sogar wimmernd zusammengebrochen, denn wenn sie »Aha« sagt, guckt sie dabei wie eine sehr herbe Mischung aus Miss Piggy und Condoleeza Rice.
Jetzt jedoch kehrt meine Schwester noch einmal zum Ausgangsthema zurück, sprich: zu den kurzen Beinen.
»Also, das ist doch Sportlehrer-Gewäsch«, entrüstet sie sich und ahmt täuschend echt unseren Erzfeind, Herrn Oberstudienrat Seldinger, nach: »Ach, Mädchen, mit den langen Beinen musst du doch die hundert Meter schneller laufen können. – Also, Katinka, mit den langen Haxen weiß ich nicht, warum du nicht bei der Basketball-AG bist …«
»Schon gut, schon gut, ich weiß, was du meinst«, flehe ich um Gnade.
Erinnerungen steigen in mir hoch, wie ich durch die Turnhalle gestolpert bin, stundenlang, bis mir von irgendeinem Spielverderber ein Ball zugespielt wurde, der mich stets zu Boden riss. Ich bin überzeugt davon, dass lange Beine in Koordinationssportarten wie Basketball, Hürdenlauf oder Spazierengehen eher unpraktisch sind. Es sind einfach längere Wege, die die Befehle aus dem Gehirn benötigen, bis sie in den weit entfernten Füßen angekommen sind, so schaut’s aus.
»Okay«, lenke ich das Gespräch wieder auf zu korrigierende Redensarten, »dann sollte man besser sagen: ›Lügen stolpern schnell, landen dabei unglücklich neben dem Trampolin, und alle lachen, vor allem die Sportlehrer.‹
Meine Schwester ist empört: »Willst du damit sagen, dass ich lüge?«
»Nein, bestimmt nicht, war nur so eine Idee.«
Meine Schwester ereifert sich weiter über sportliche Sprichworte:
»Diese saublöde Hase-und-Igel-Geschichte, was soll uns das denn lehren? Dass wir alle schummeln sollen? Oder uns klonen lassen? Oder dieses elende ›Die Nase vorn haben‹. Das will man ja wohl hoffen, dass niemand die Nase hinten hat. Total bescheuert ist ja wohl auch: ›Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben‹. Ja, geht’s denn noch? Darf ich niemandem mehr einen guten Tag wünschen, oder was, oder wie?«
So habe ich die Dinge noch gar nicht betrachtet. Allerdingsbefürchte ich, dass niemand außer meiner Schwester die Dinge je so betrachtet. Trotzdem ist sie leider keine von den brauchbaren Autisten, mit denen
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