Nicht ohne Beruf (German Edition)
seiner Familie in Berlin lebte, Gelegenheit, zu uns nach Leipzig zu kommen: Uta hatte ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden. Erich mit Gipsbein genoss als stolzer Vater, welch tüchtige Tochter er in die Welt gesetzt hatte. Selbst Omi Anna schwoll die Brust.
Da Erich, was seine Mutter nicht wissen durfte, schon am Abend zuvor angereist war und bei uns übernachtet hatte, fuhren wir mit einem Taxi in die Schule.
Die Abi-Feier war gerade an dem Tag, an dem Deutschland Fußball-Weltmeister wurde, am 4. Juni 1954.
Das bedeutete: Omi, Mutti und ich durften am Nachmittag, als Vati während der Fu ßballübertragung mit dem Kopf fast in das Rundfunkgerät hineinkroch, kein Wort reden! Ich hatte zuvor noch nie erlebt, wie albern und egozentrisch sich Männer benehmen, wenn es um Fußball geht. Woher auch?
Bei uns zu Hause aßen wir dann zu Mittag.
Ich hatte eine liebe Fleischersfrau, bei der ich meine Ware bestellte und abends nach meinem Dienstschluss abholte. Ich bekam schön zarte Koteletts.
Oh, einmal, alles war bestellt; ich betrat den Fleischerladen, der voller Menschen war. Bezahlt hatte ich schon bei der Bestellung, als es ruhig im Geschäft war. Schnurstracks ging ich nach vorn, um eben das schon fertig eingepackte – Fleisch und Wurst – abzuholen. Plötzlich eine Stimme aus der Menschenschlange: „He, Sie da mit m Hut! Denken Sie, Sie sind was Besseres?“
Ich konnte nicht wie die meisten Frauen Kopftuch tragen; das hielt nicht. Omi gab mir einige von ihren vielen Hüten, die ich von der Putzmacherin umarbeiten ließ.
Mitte der fünfziger Jahre bot sich nochmals eine Gelegenheit, für Röntgenpersonal mit langjähriger Praxis eine Prüfung abzulegen, um beim Rat der Stadt als Röntgenassistentin anerkannt zu werden.
Wir waren zu dritt: Kati, Margret und ich. Wir besorgten uns alles Nötige von der Fachschule für MTA von Atomlehre, Röntgenphysik, Dunkelkammer.
Aufnahmetechnik zu lernen blieb uns nach so langer Praxis erspart. Hinzu kam natürlich Politisches! Wir paukten Marxismus-Leninismus, wälzten Zeitungen. Margret sogar Hegelsche Philosophie!
Da ich bereits Chemie studierte, konnten wir uns gegenseitig abfragen. Ab da ha tten wir eh schon ein Verhältnis wie Schwestern. Das schützte allerdings nicht vor Muttis alljährlichen handfesten Sommergewittern!
Der Prüfungstag kam. Zwei Stunden Röntgenphysik! Ich wurde über die Dunke lkammer gefragt. Was wollten sie hören? Nachdem ich viel vorgetragen hatte, stellte sich heraus, sie wollten hören: Sie muss zu verdunkeln gehen! Ja, das ist doch klar! Dann, wie es der Zufall oder Glücksfall will, ich hatte mich mit dem letzten Parteitag beschäftigt und kam auch prompt damit dran. Kati Industrialisierung, und die Kunze tatsächlich mit Hegel!
Dann verschwand die Prüfungskommission hinter der Tür. Nach einer Weile das Urteil: Sie haben bestanden!
Wieder ein Blättchen mehr für den weiteren Weg!
Februar /März 2005: Der Winter hat uns doch noch massiv eingeholt. Der See vor Muttis Fenster ist zugefroren und die Kinder laufen Schlittschuh. Es bereitet Mutti Probleme, über die ungeräumten Straßen zu gehen. Ich habe gehofft, die Ein-Euro-Jobs würden diese Schwierigkeit beheben!
Mutti hat nun auch taube , kraftlose Finger: Um die Wohnungstür aufschließen zu können, darf sie die Kneifzange nicht vergessen. Am Schlüsselkopf dient sie als verlängerter Hebel, um den Schlüssel zu drehen.
Ein anderes Handikap: Die Zunge scheint auf der linken Seite gelähmt zu sein, daher das mühsame und unverständliche Sprechen. Wenn sie schlucken will, legt Mutti wie ein Vögelchen den Kopf auf die rechte Seite, wohin das Getränk fließen soll; denn dort kann sie schlucken.
Als unsere Kinder noch sehr klein waren, haben wir halbjährigen Geburtstag gefe iert. Gegen Ende des Lebens ist es ebenso. Zum Halbjahres-Geburtstag bringe ich ihr mit einem großen Tulpenstrauß den Frühling ins Zimmer.
Außer über lahme Beine klagt Leni besonders über die Folgen der Gürtelrose, als ob jemand mit dem Messer darin wühle.
Die Zeitschriften rühmen die gute Schmerz -Versorgung. Fehlanzeige! Wir haben uns davon verleiten lassen und gehen zu einigen Palliativ-Medizinern. Vielerlei Schmerztabletten werde verschrieben. Entweder verträgt sie das Präparat nicht und ihr Magen rebelliert, oder sie machen „ganz blöd im Kopf“. Das mag Leni nicht. Ihre Erfolge beim Kartenspiel würde das sehr gefährden! Lesen könnte sie auch nicht.
Weitere Kostenlose Bücher