Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicht ohne dich

Nicht ohne dich

Titel: Nicht ohne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
Vom Netzwerk:
Karl und meinen Papa«, sagte Raffi plötzlich. Dann segnete er den Wein, richtigen Wein von Tante Grete dieses Mal, und ihren Christstollen. Danach verspeisten wir den Karpfen mit Kartoffel-Rotkohl-Füllung, gegart in einer aufwändigen, köstlichen süßsauren Soße aus Äpfeln, Zwiebeln, Zucker und Essig. Als Nachspeise gab es den Butterstollen und Nürnberger Lebkuchen und wir teilten uns eine Orange. Und dann brachten wir keinen Bissen mehr hinunter, so unvorstellbar satt waren wir.
    »Glaubt ihr, dass Onkel Dietrich in Oklahoma Weihnachten feiert?«, fragte Raffi.
    »Ja«, antwortete Mama. »Aber sie haben vielleicht keinen richtigen Baum. Ich weiß nicht, was da drüben für Bäume wachsen.« Sie nahm einen Schluck Wein und ich sah, dass sie weinte. Ich streckte die Hand aus und umfasste ihr Handgelenk. Da musste sie noch mehr weinen, aber unter Schluchzern sagte sie: »Raffi – deine Mutter. Sie lebt. Da bin ich mir sicher. Ich kann sie spüren .«
    »Was?«, fragte Raffi. »Jetzt hier bei uns?«
    »Sie ist doch meine beste Freundin«, sagte Mama.
    Ein Stück Kohle fiel im Ofen um und durch das Ofenfenster sah man es aufflackern. Ich dachte: Bitte lass sie recht haben, bitte lass Tante Edith am Leben sein.
    Ganz, ganz leise sagte Raffi: »Ich habe sie auch gespürt. Ich hoffe nur, das ist nicht ihr Geist.«
    Wir zündeten die Kerzen an und schalteten das Licht aus, wie wir es immer am Heiligabend gemacht hatten. Jetzt war nur noch der Baum zu sehen, seine dunklen, leicht schimmernden Zweige, das aprikosenfarben schimmernde Kerzenlicht, das sich in dem glänzenden Baumschmuck und in den langen Lamettafäden spiegelte.
    Raffi atmete tief durch die Nase ein und lächelte. »Dieser Tannenduft. Obwohl er jedes Jahr gleich ist, haut er mich immer wieder um. Was meint ihr, soll ich den Weihnachtsmann spielen?«
    Mama entgegnete: »Wenn du möchtest, das Kostüm haben wir noch. Es ist in meinem Zimmer.«
    Und so ging Raffi mit ihr hinaus, während ich sitzen blieb und den erleuchteten Baum betrachtete, unter dem die bunt verpackten Geschenke mit ihrem geheimnisvollen Inhalt lagen. Wieder dachte ich an Tante Edith und daran, wie lieb ich sie hatte. Einen Augenblick glaubte ich ihre Hand auf meiner Wange zu spüren und dann war ich mir – nur einen Moment lang – sicher, dass Mama recht hatte und sie lebte. Aber wo war sie? In einem grauenvollen Konzentrationslager, frierend und hungernd? Ich betete für sie, dass es ihr gut ging, und hoffte, dass es da draußen jemanden gab, der dafür sorgte.
    Der Weihnachtsmann kam in seinem roten Kostüm und mit dem weißen Bart herein. Da Raffi ein bisschen größer als Papa und Onkel Markus war, sah ich seine Schuhe und ein Stück seiner Hose hervorlugen. Er trat vor den Baum und überreichte Mama und mir unsere Geschenke.
    Mama hatte mir eine graue Jacke geschneidert, ein richtig schickes Stück, tailliert und einreihig. Ans Revers hatte sie Großmutters filigrane Silberbrosche gesteckt. Als ich Raffis kleines Päckchen öffnete, wusste ich, dass sich Mama und er abgesprochen hatten, denn er schenkte mir einen schwarzen Onyxanhänger in filigraner Silberfassung mit Kette und dazu passende Ohrringe. Das Geschenk kam irgendwie auch von Tante Edith, weil der Schmuck ihr gehört hatte.
    In den Fotorahmen für Mama hatte Raffi ein Foto von mir gesteckt. Als sie es drehte und wendete und die kunstfertige Ausführung lobte, bat er sie um ein Foto von uns beiden, das er mitnehmen konnte.
    »Natürlich«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte kurz. Für den Rest des Abends erwähnten wir nicht mehr, dass Raffi uns verlassen würde.
    Als Mama mein Geschenk auspackte, betete ich in Gedanken: Bitte lass sie den Saum nicht genauer unter die Lupe nehmen, sonst ärgere ich mich, Weihnachten hin oder her. Einen Augenblick schien sie es zu erwägen, doch dann schlang sie sich den Schal um den Hals und ging in den Flur, um sich im Spiegel zu betrachten.
    »Sehr hübsch, Jenny.« Mehr sagte sie nicht, als sie zurückkam.
    Dann war Raffi mit seinen Geschenken an der Reihe.
    »Zieh zuvor dein Weihnachtsmannkostüm aus«, bat ich.
    Er sah mich an. »Warum denn?«
    »Ich möchte beim Auspacken dein Gesicht richtig sehen.«
    Er tat wie geheißen und legte das Kostüm in einem rot-weißen Haufen auf das Sofa. Dann nahm er sich seine Geschenke vor. Zuerst öffnete er meines, und seine Augen begannen zu leuchten. »Er ist wunderschön«, sagte er. »Das wird mein Lieblingspulli.« Mama hatte ihm ein

Weitere Kostenlose Bücher