Nicht ohne dich
ständig unter Strom, stimmt’s? Deshalb seid ihr auch so schlank.«
An Heiligabend hätte er einen Weihnachtsbaum für uns, sagte er. Ich hoffte nur, wir würden uns noch alle zusammen daran erfreuen können.
Nach dem Mittagessen setzte ich mich in Raffis Zimmer aufs Bett und nähte das Weihnachtsgeschenk für Mama: einen Schal aus einem Stück Chiffon, das mir Tante Grete zugesteckt hatte. Es gab wieder Strom, deshalb hatte ich genug Licht. Raffi bastelte neben mir einen Bilderrahmen für Mama. Ich hatte ihm aus der Werkstatt Holzreste, Werkzeug und Sandpapier gebracht. Gerade war er dabei, ihn zu lackieren. Welches Bild er in den Rahmen stecken würde, wollte er mir nicht verraten. Ich war fürchterlich nervös, hätte am liebsten jeden Augenblick mit ihm festgehalten. Mir graute es vor den Tagen ohne ihn, die vor mir lagen.
Unser Paket für Papa hatten wir längst abgeschickt; selbstgebackene Lebkuchen, eine Hexenstoffpuppe von mir, damit er eine Vorstellung bekam, woran ich arbeitete, einen Satz Stofftaschentücher mit Rollsaum von Mama. Er war so weit fort. Wir hatten Oklahoma in Karls Geographielexikon nachgeschlagen: Dort wurde viel Öl und Gas gefördert, und vor einigen Jahren hatte sich das fruchtbare Ackerland in Wüste verwandelt. Papa arbeitete immer noch im Lazarett. Ich stellte mir vor, wie er von Krankenbett zu Krankenbett ging, geduldig, freundlich, uneigennützig, wie es seine Art war. Wenn er danach ins Freie trat, sah er den Staub über die toten Felder wehen. Er musste uns schrecklich vermissen, so wie ich ihn vermisste – und wie ich Raffi schon jetzt vermisste, obwohl er noch gar nicht weg war.
Ich zog zu hastig am Faden und er rutschte mir aus dem Öhr. Er war schon ziemlich kurz, bald würde ich neu einfädeln müssen, aber Nähgarn war so kostbar, dass man es bis zum letzten Zentimeter aufbrauchen musste. Ich versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, was Papa mir vor dem Krieg gesagt hatte. Dass sich der Weg weisen werde, wenn wir an unserer Liebe zueinander festhielten. Ich leckte das Fadenende ab, formte es zu einer Spitze und versuchte es wieder einzufädeln, doch es verfehlte das Öhr, und ich saß dumm da mit dem Faden in der Hand. Ich dachte: Aber jemanden zu lieben tut so weh.
»Was hast du?«, fragte Raffi.
»Ich krieg den Faden nicht ins Öhr«, antwortete ich. Aber er wusste, dass es nicht darum ging. Er legte seine Arbeit nieder, rückte näher und legte den Arm um mich. Ich kuschelte mich an ihn und er strich mir über die Haare.
Die Uhr schlug zwei. Halb drei. Ich hatte den Schal halb eingesäumt.
»Wann musst du los?«, fragte Raffi.
Ich sagte: »Um viertel vor vier. Das ist locker früh genug.«
Jemand schien an der Uhr gedreht zu haben, wie sonst konnte es sein, dass die Zeit so schnell verging? Um fünf vor halb vier war ich mit dem Schal fertig. Ich wickelte ihn in Weihnachtspapier vom letzten Jahr ein, das wir sorgfältig geglättet und zur nochmaligen Verwendung aufbewahrt hatten.
Ich stand auf, Raffi ebenso. Wir fielen uns in die Arme.
Die Uhr im Flur schlug drei viertel. Ich ging in den Flur, um Mantel, Mütze und Straßenschuhe anzuziehen. Raffi folgte mir.
»Pass auf dich auf«, sagte er besorgt.
»Ja. Das werde ich.«
Wir küssten uns zum Abschied, und er verschwand wieder in seinem Zimmer, damit er nicht gesehen wurde, falls gerade jemand die Treppe hinunterging.
Das Café Wagner war ziemlich heruntergekommen, an einer Wand hing eine stehen gebliebene goldene Uhr, direkt neben einem der gewaltigen Risse, wie sie dieser Tage jedes Haus zierten. Es war voll. Agnes Hummel hatte dieses Lokal wohl bewusst deshalb gewählt. Ich sah sie in der Ecke des Cafés sitzen. Als sie mich entdeckte, stand sie auf.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie. »Wie geht es deiner lieben Mutter?«
Wir sollten also schauspielern, begriff ich. Sie rief die Kellnerin und bestellte ein Kännchen Kaffee. Dann gingen wir zur Theke, um das armselige Kuchenangebot zu begutachten. Der Mohnkuchen sah halbwegs essbar aus, weshalb ich mich dafür entschied. Sie ebenfalls.
Doch als er kam, war er so trocken, dass ich ihn kaum schlucken konnte. Ich spülte ihn mit dem Getreidekaffee hinunter. Die Milch im Kaffee war Magermilch und schmeckte säuerlich – die Sahne hatten vermutlich Parteibonzen und Leute wie Onkel Hartmut und Tante Grete abbekommen.
Ich erzählte ihr von Mama und den Weihnachtsaufträgen und dass ich meine schon erledigt hätte. »Dann bist du ja ganz schön
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