Nicht ohne dich
stand auf meinem Schreibtisch und immer, wenn ich mit den Hausaufgaben Probleme hatte, hatte ich damit herumgespielt.
»Hier«, sagte ich, »nimm das mit.«
»Danke«, entgegnete er. Dann lagen wir einander wieder in den Armen.
»Ich will nicht gehen!«, sagte er.
Es klingelte an der Tür, und wir fuhren beide zusammen. »Ist es etwa schon so weit?«, fragte er.
»Es ist noch zu früh«, erklärte ich ungehalten. »Das kann nicht – diese Person sein.«
Es war Frau Steffens. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Mama, obwohl das, wie ich wusste, nicht der Wahrheit entsprach. »Kommen Sie in die Küche, da ist es warm.«
Frau Steffens folgte ihr und setzte sich auf Raffis Platz. Sie war sehr schlank, aber vor dem Krieg sicher eher pummelig gewesen, denn unter ihrem Kinn hing faltige Haut, und man sah, dass ihr Kleid enger gemacht worden war. Auch Mama fiel es auf, sie rümpfte angesichts der stümperhaften Abnäher die Nase. Ob Frau Steffens wohl etwas bei Mama in Auftrag geben wollte? Dann sah ich, wie ihr Gesicht zusammenfiel.
»Mir fehlt mein Mann so«, sagte sie nach Luft schnappend. »Ich wollte mir vor den Kindern nichts anmerken lassen und dachte, Sie – Sie würden mich verstehen, weil doch Herr Friedemann auch in Amerika ist. Zwar in Oklahoma und nicht in Minnesota, und ich weiß schon, dass sie da drüben auch Weihnachten feiern, aber – eben als Gefangene. Man hat ihn zum Baumfällen eingeteilt, vielleicht lassen sie die Deutschen die gefährlichsten Arbeiten verrichten, und …«
Mama tätschelte ihr den Rücken. Frau Steffens schluchzte weiter und ließ sich tätscheln, und ich dachte: Sie müsste mir eigentlich leidtun, es ist schlimm für sie – bloß, warum kommt sie ausgerechnet heute?
Schließlich riss sie sich zusammen und hörte auf zu weinen. Sie fragte mich: »Erinnerst du dich überhaupt noch an deinen Vater?«
»Natürlich«, entgegnete ich. Ich war wütend. Was glaubte sie eigentlich von mir?
Sie merkte es. »Tut mir leid. Weißt du, meine Kinder sind jünger – und sie erinnern sich nicht, nicht einmal Marlene. Sie kennen es nicht anders, als immer nur mit mir und ihrer Großmutter zusammen zu sein. Oh …«
Sie fing wieder an zu weinen, und ich konnte kein Mitgefühl empfinden. Ich dachte: Wie lange will sie denn noch bleiben? Ich konnte nicht zu Raffi verschwinden, es schien uns nicht sicher, wenn jemand zu Besuch war. Wollte sie denn überhaupt nicht mehr gehen? Plötzlich weinte ich selbst vor Wut und Enttäuschung.
Im Glauben, ich weinte um Papa, stand sie auf und entschuldigte sich, weil sie mich aus der Fassung gebracht hatte. Das und Mamas Beteuerungen, sie brauche sich keine Vorwürfe zu machen, nahmen noch mal fünf Minuten in Anspruch.
Und ob sie das muss, dachte ich. Aber irgendwann ging sie dann doch. Ich habe noch ihre Worte im Kopf: »Es gibt so vieles, um das man in diesen Zeiten weinen muss.«
Mama schloss die Tür hinter ihr. »Ja. Mehr, als sie ahnt.«
Es war Essenszeit. Mama und ich aßen mit Raffi in seinem Zimmer. Kalte Gans und den Rest Rotkohl. Nach dem Mahl sagte sie: »Ich mache jetzt mit Muffi einen schönen langen Spaziergang.«
Wir liebten uns wild, verzweifelt, hielten einander so fest wir konnten und küssten uns so heftig wie nie. Danach ließ er den Kopf an meiner Schulter ruhen, und ich küsste seine Haare, streichelte seine Oberarme und alle anderen Teile seines Körpers, die ich erreichen konnte. Lange Zeit ließ ich meine Finger um seine Ohren wandern. Für mich waren es die schönsten Ohren, die ich je gesehen hatte. Dann stemmte er sich hoch und bedeckte mich mit Küssen, mein Gesicht, meinen Körper, meine Hände. Er sah mich an wie in jener ersten Nacht, verschlang mich mit den Augen.
»Ich liebe dich«, sagte er immer wieder, und ich sagte immer wieder: »Ich liebe dich auch, Raffi.« Immer und immer wieder.
In der Wohnungstür drehte sich ein Schlüssel. Mama war zurück. Ich hörte Muffi herumlaufen. Sie kam an unsere Tür und schnupperte – sie wusste, wo wir steckten. Mama ging in die Küche. Ich zog mich an und folgte ihr. Schon im Flur roch ich den Kaffee, den sie mahlte.
»Heute gönnen wir uns richtigen Kaffee«, sagte sie. »Ich bringe ihn in Raffis Zimmer.«
Den Kaffee brachte ich hinunter, den Stollen und die Lebkuchen, die Mama auf ihrer besten Kuchenplatte angerichtet hatte, nicht. Raffi ebenso wenig. Wir sprachen über die Weihnachtsfeste unserer
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