Nicht ohne dich
Friedemann war nicht einverstanden.«
»Der Vater deines Vaters war sehr nationalistisch, ja sogar monarchistisch gesinnt. Deine Großmutter hatte die gleiche Einstellung. Sie fand es unerhört, dass dein Vater eine halbe Engländerin heiratete.« Sie zögerte, dann fuhr sie fort: »Dein Großvater Friedemann war ein durch und durch harter Mann. Er hat Papa und Tante Grete regelmäßig verprügelt, und manchmal sogar seine Frau.«
Ich war erschüttert. »Wie bitte?«, fragte ich.
Mama sagte: »Das ist der Grund, warum Papa dir und Karl nie einen Klaps gegeben und auch nicht zugelassen hat, dass ich es tue.« Sie zog eine Grimasse. »Möglicherweise wärt ihr sonst ein bisschen braver gewesen.«
Ich schnitt meinerseits eine Grimasse. »Vielleicht wäre ich auch wie Hildegard und Kunigunde geworden.«
»Gott bewahre!«, meinte Mama lachend. Dann wurde ihr Blick nachdenklich. »Weißt du, warum dein Vater bei der Sanitätstruppe gelandet ist?«
»Nein«, sagte ich. »Erzähl es mir.«
»Er meldete sich wie all die anderen Jungs in seiner Klasse freiwillig, und als sie mit der Grundausbildung begannen, mussten sie mit dem Bajonett auf einen strohgefüllten Sack einstechen, als handelte es sich um einen feindlichen Soldaten. Sie mussten das Bajonett richtig brutal hineinrammen und anschließend herumdrehen, wie um die Eingeweide herauszureißen.« Ich zuckte bei dem Gedanken zusammen, und sie nickte. »Dein Vater konnte den Gedanken nicht abschütteln, so etwas mit einem echten Menschen zu machen, und brachte es nicht über sich, richtig in den Sack zu stechen. Am Ende beschlossen sie, er sollte sich besser um die Verwundeten kümmern.« Sie lächelte traurig. »Dabei ist Papa ein tapferer Mann.«
»Ja«, bestätigte ich. Dann fiel mir ein, wie Karl zu Norbert Mingers gesagt hatte: »Wir kämpfen.« »Karl muss Menschen getötet haben«, sagte ich. »Für Papa war das sicher schwer.«
»Ganz bestimmt, aber gleichzeitig hat er nicht von Karl erwartet, dass er genauso handelt wie er. Deshalb liebe ich ihn, Jenny. Weil er so großmütig ist.«
»Es gibt keinen Zweiten wie ihn«, sagte ich.
Wir umarmten einander, bemüht, nicht zu weinen. Dann fragte ich sie: »Möchtest du nicht mit uns in Raffis Zimmer essen?«
»Seid ihr nicht lieber allein?«, wandte sie ein.
»Komm doch mit«, bat ich, und sie kam mit.
Kurz vor fünf befiel mich Panik. Und wenn ich mich nun getäuscht und Agnes Hummel vom fünfundzwanzigsten und nicht vom sechsundzwanzigsten gesprochen hatte? Aber an diesem Abend kam niemand, um Raffi von uns fortzuholen.
Wir hatten ein köstliches Abendessen, Gans mit Rotkohl und Kartoffeln und anschließend wieder Stollen. Wir tranken Wein und lachten und scherzten. Aber den gefüllten Gänsehals tischte Mama nicht auf. Ich wusste, warum. Sie wollte ihn Raffi auf die Reise mitgeben, wohin sie ihn auch führen würde. Nein, dachte ich, ich muss es vergessen, heute ist schließlich heute. Fast erfolgreich redete ich mir ein, der Krieg würde über Nacht zu Ende sein und die Nazis verschwinden. Der Wein trug das Seine dazu bei, schätze ich.
Aber nachdem wir uns geliebt hatten, konnte ich nicht einschlafen. Der Wind nahm zu, ich hörte ihn um das Haus heulen. Irgendetwas fiel vom Dach und zerschellte. Wahrscheinlich wieder ein Ziegel, was noch mehr Arbeit für Janke bedeutete. Von der Straße kamen seltsame Laute, ein trippelndes Geräusch, das ich nicht zuordnen konnte.
Als ich schließlich doch einschlief, träumte ich von Karl. Er war bei uns im Zimmer, schüttelte den Kopf und fragte: »Was habt ihr in meinem Bett zu suchen?«
»Aber du bist doch tot, Karl«, gab ich zurück.
»Nein, bin ich nicht«, entgegnete er. »Wer hat dir denn das erzählt?«
Ich wachte auf. Es war Morgen und Karl war tot. Und Raffi musste fort.
Mama sagte: »Nimm doch Karls Rucksack.«
Den, den er immer geschultert hatte, wenn er an den Wochenenden mit Fritz zum Wandern gegangen war. Fritz war auch tot, er war in der Ukraine gefallen. Seine Mutter hatte es Mama gesagt.
Raffi stopfte Kleidung zum Wechseln hinein, die beiden Bücher über Architektur sowie die Fotos von mir und Mama, die sie ihm geschenkt hatte. Außerdem alle seine Zeichnungen. Er sagte: »In der Schreibtischschublade liegt etwas für dich, Jenny. Lies es, wenn – wenn ich weg bin.«
Er trug den Pullover, den ich ihm gestrickt hatte.
Ich rannte in mein Zimmer und holte das kleine Holzschwein, das Papa mir zum fünften Geburtstag geschnitzt hatte. Es
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