Nicht ohne dich
ein.
»Ja«, sagte Mama, »aber warum zum Kuckuck bringt sie denn nicht mal einen geraden Saum zustande? Und wie sie die Ärmel eingesetzt hat …«
Ihr überlegenes Getue ärgerte mich. Ich wollte sie schon daran erinnern, dass eben nicht jeder das Schneiderhandwerk erlernt hatte, doch sie sagte: »Ich glaube, es ist jetzt Zeit für die Verdunklung, Jenny.«
Ich lief durch die ganze Wohnung und zog die Verdunklungsrollos herunter. Dann rief ich Raffi und er kam aus seinem Zimmer mit einem Topf Rotkohl, Äpfeln und Zwiebeln. Er hatte alles auf seinem Schreibtisch klein geschnitten.
»Du liebe Güte!«, rief Mama bei einem Blick in den Topf. »So fein hat es ja nicht einmal Katrin hinbekommen.«
Raffi grinste erfreut über das Lob. »Maximal einen Millimeter dick«, sagte er. »Soll ich jetzt im Wohnzimmer anschüren?«
Er nahm den Kohleneimer und ging leichtfüßig ins Wohnzimmer. Und wenn es uns noch so viel Kohle kostete, wir würden Weihnachten nicht in der Küche feiern. Ich folgte ihm mit der Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck. Mama und ich hatten den Baum bereits aufgestellt; schmücken wollten wir ihn alle zusammen. Tante Grete hatte uns außer den Lebensmitteln eine Menge roter Kerzen mitgegeben.
Trotz meiner zwei Pullover fröstelte ich. Ich trug sogar meine fingerlosen Handschuhe. Raffi bereitete das Feuer in unserem grünen Kachelofen vor, auf eine Schicht Zeitungspapier kamen die Holzstückchen, die ich in ausgebombten Häusern gemopst hatte. Die Flammen züngelten hoch und fielen dann zischend zusammen, als er die ersten Kohlen drauflegte. Ich ging vor dem Feuer in die Hocke und streckte meine Hände dem bisschen Wärme entgegen, das sich nach und nach entwickelte.
»Na bitte«, sagte er. »Das wird schon.« Er drehte sich um und küsste mich, die schmutzigen Hände von mir weggestreckt. Nach dem Kuss wedelte er vor meinem Gesicht damit herum. Sie waren dunkelrot vom Rotkohl und braun gesprenkelt von den Kohlen.
»Wir hatten genau den gleichen Ofen«, stellte er fest. »Vermutlich steht er immer noch dort.« Er grinste. »Wir könnten in unsere alte Wohnung einbrechen und nachsehen, was die Mingers damit gemacht haben. Nein, ich weiß. Zu gefährlich. Ich kann es mir sowieso vorstellen. Tapeten mit Hakenkreuzmuster und überall Hitlerbilder.«
»Wahrscheinlich sogar auf dem Klo.«
»Mit einem Schild darunter«, sagte Raffi grimmig. »Dass wir in diese Schüssel kacken dürfen, verdanken wir unserem Führer.«
Und dann lachten wir beide unseren Ärger weg. Raffi lachte in mein Haar hinein. Es kitzelte. Ich fand das herrlich.
Allmählich wurde es etwas wärmer. Raffi legte noch ein paar Kohlen nach und ging sich die Hände waschen. Dann fingen wir an, den Baum zu schmücken. Wir behängten ihn mit den silbernen und goldenen Glocken und Kugeln und befestigten den Engel mit dem Wachskopf an der Spitze. Die goldenen Kugeln mit den glitzernden Schneeflocken vorne drauf wurden zu einem Streitpunkt. Raffi wollte sie lieber an die Seite hängen, ich nach vorn, weil das meine Lieblingskugeln waren. Schließlich gab er nach. »Aber dafür will ich einen Kuss«, sagte er.
Wir schmückten die blaugrünen Zweige mit langen Lamettafäden, danach befestigten wir die Kerzen. Wir mussten an den Kerzenhaltern herumdrehen, bis die Kerzen gerade saßen. Die Ofenwärme setzte den Tannenduft frei.
»Jetzt sind wir in Weihnachtssicherheit.«
Ich wusste, was er meinte. Die Bomber waren zurück zu ihren Stützpunkten geflogen und freuten sich auf ihr englisches Weihnachten und ihren Truthahn. Bestimmt schmückten sogar die Gestapobeamten einen Weihnachtsbaum und aßen einen Karpfen.
Ich ging meine Geschenke holen und Raffi kam mit zwei kleinen Päckchen aus seinem Zimmer. Wir legten sie unter den Baum. Mamas Geschenke für uns waren noch nicht dabei.
»Papa und Onkel Dietrich haben früher abwechselnd den Weihnachtsmann gespielt. Es gab immer einen Berg Geschenke«, sagte Raffi.
»Ich habe ewig nicht kapiert, warum einer immer fehlte und dafür der Weihnachtsmann kam. Weißt du, ich finde es eigentlich aufregender, solange die Geschenke noch nicht ausgepackt sind. Dann kann man sich vorstellen, dass alles Mögliche drin ist.«
Es war Weihnachten, aber auch Freitagabend, deshalb feierten wir vor der Bescherung das Sabbatmahl. Raffi und ich trugen den Esstisch und drei Stühle ins Wohnzimmer und zündeten dort die Kerzen an.
Raffi sprach den Segen über uns und wir dachten an Papa und Tante Edith. »Und an
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