Nicht ohne dich
mit drei weiteren, graugesichtigen Frauen in einen geschlossenen Laster steigen. Ihre Gesichter waren mit Prellungen übersät, die Kleider blutverschmiert. Eine hatte eine gebrochene Nase, und ich konnte mir vorstellen, wie das passiert war. Bei ihrem Anblick begann ich zu zittern, doch ich zwang mich, an das zu denken, was ich sagen musste. Ich sprach es mir im Kopf vor, während der Laster dahinruckelte – wohin, das war mir klar. Ins Gestapohauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße.
Sie stießen mich in einen Raum, wo helles Licht mir direkt in die Augen schien. Ich versuchte mich abzuwenden, doch der Gestapomann neben mir versetzte mir einen Schlag und herrschte mich an, ich solle geradeaus blicken. Jenseits des Lichts war ein weiterer Mann, ich hörte seine Stimme, er bombardierte mich mit Fragen, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen.
»Wie oft hast du Rafael Jakobi noch gesehen, nachdem seine Familie weggezogen war?«
»Überhaupt nicht.«
»Du lügst, du hast dich mit ihm getroffen.«
»Habe ich nicht. Wirklich nicht.«
»Hast du wohl. Wir wissen alles über deine Treffen mit ihm, also kannst du es uns genauso gut erzählen.«
»Es gab keine Treffen. Ich bin bloß zur Schule gegangen und habe ganz normal weitergelebt.«
»Warum bist du dich nicht in den Bund Deutscher Mädel eingetreten?«
Mir wurde schwarz vor Augen vom Starren in das helle Licht. Schwindlig war mir auch. Ich sagte: »Ich war zu beschäftigt.«
Der Mann lachte. »Oh ja, wir wissen, wo du warst. Du bist auf den Strich gegangen, stimmt’s?«
Erst wusste ich nicht, was er meinte. »Wie bitte?«, fragte ich.
Seine Stimme hatte jetzt einen brutalen, höhnischen Unterton. »Du bist während der Verdunklung rausgegangen und hast dich von Männern auflesen lassen. Dann hast du sie in deine Wohnung gebracht und gegen Geld mit ihnen geschlafen.«
Ich fühlte mich, als hätte er mir die Kleider vom Leib gerissen. »Nein«, entgegnete ich mit Nachdruck. »Habe ich nicht.«
»Wenn du keine Hure warst, warum hast du dann am zweiundzwanzigsten November einen Mann mitgenommen?«
Darauf hatte ich mich mit Mama vorbereitet. Ich erklärte: »Auf dem Heimweg nach dem Luftangriff ist ein Haus über mir zusammengestürzt. Er hat es gesehen und Hilfe geholt, damit man mich ausgrub. Ich habe ihn mit nach Hause zu Mama genommen, weil er keine Bleibe hatte.«
»Warum warst du überhaupt unterwegs?«
Auch diese Frage hatten Mama und ich vorhergesehen, und uns war bewusst, dass die Geschichte, die sie sich für jenen Abend zurechtgelegt hatte, nicht ausreichen würde. Sie war zu einfach nachzuprüfen.
»Mama und ich hatten Streit gehabt, darum bin ich aus der Wohnung gerannt.«
»Aber sie hat euren Nachbarn erzählt, du müsstest einer Kundin etwas liefern.«
»Sie wollte den Streit nicht erwähnen. Dann hätte Frau Mingers bloß gesagt, dass sie mich nicht richtig erzieht.«
»Stimmt ja auch, oder?« Er lachte. »Immerhin hat sie dich auf dem Kurfürstendamm auf den Strich gehen lassen. Aber vielleicht fand sie das ja auch gut.« Er hielt einen Moment inne, dann fauchte er: »Wer war der blonde Mann, mit dem man dich gesehen hat?«
»Er hieß Leutnant Frey und war auf Heimaturlaub von der italienischen Front.«
»Leutnant Frey? Es war Rafael Jakobi. Stimmt’s?«
»Nein. Ich weiß nicht, was mit den Jakobis passiert ist. Wahrscheinlich hat man sie nach Polen gebracht.«
»Na schön, der Mann war also Leutnant Frey. Er war einer deiner Freier, und du hast ihn mit in die Wohnung genommen und mit ihm geschlafen.«
Was ein Freier war, hatte ich schon mal gehört.
Ich sagte: »Ich habe ihn geküsst, das war alles. Er war so nett gewesen und hatte mir das Leben gerettet.«
Jenseits des Lichts sagte jemand: »Du hast ihn mit Sex belohnt, du Flittchen. Tu nicht, als wärst du noch Jungfrau.« Er lachte. »Na, ich denke, ich werde mich gleich mal persönlich davon überzeugen.«
»Nein!«, kreischte ich und schlang schützend die Arme um meinen Oberkörper. Ich schluchzte. Das halte ich nicht aus, dachte ich.
»Schluss damit!«, sagte die Stimme. »Du sollst nicht heulen, du sollst reden! Damit fährst du letzten Endes besser.«
Ich wischte mir die Nase mit dem Handrücken ab. Ich fühlte mich schwach, ohne jede Hoffnung, und wusste nicht mehr weiter. Aber dann gab mir irgendein Überlebensinstinkt die rettende Idee ein.
»Na schön. Ja, ich habe es getan – als ich Leutnant Frey mit nach Hause genommen habe. Er hatte keine Bleibe,
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