Nicht ohne dich
unterhalten, man musste zusehen, dass man überhaupt genug Luft bekam.
Nachdem wir die Wäsche aufgehängt hatten, ging ich in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Mama versuchte mich nicht zurückzuhalten. Ich zog das Blatt Papier aus meiner Tasche und faltete es auseinander. Es war eine Zeichnung. Ich dachte: Ist das alles? Doch dann merkte ich, was es war.
Er hatte das Haus gezeichnet, das er nach dem Krieg für uns bauen wollte. Vom Stil her ähnelte es seinen anderen Entwürfen, leicht und luftig mit einem Balkon, an den er Geranien gezeichnet hatte. Aber es war ein freistehendes Haus, keine Wohnung. Es gab einen Garten, in dem Muffi herumlaufen konnte, und auf die Pläne hatte er geschrieben: Jennys Arbeitszimmer. Raffis Arbeitszimmer. Und: Zimmer unserer Kinder. Er hatte eine rationelle Küche entworfen, »damit du dich nicht so plagen musst, mein Liebling« . Und unser Haus sollte ein großes kombiniertes Wohn-und-Ess-Zimmer haben, mit Terrassentüren in den Garten hinaus und einem altmodischen Kachelofen, wie wir ihn in der Wohnung hatten.
Mama kam mit einer weiteren Tasse Bohnenkaffee herein. Sie setzte sich neben mich, während ich ihn trank.
»Ich verstehe sehr wohl, was du empfindest«, sagte sie. »Ich muss nämlich auch ohne Papa auskommen.«
»Das ist nicht das Gleiche …«, entgegnete ich.
»Nur, weil wir länger zusammengelebt haben. Glaubst du, es tut weniger weh, wenn man auf eine lange gemeinsame Zeit zurückblicken kann? Es tut sogar mehr weh.« Sie lachte auf. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, Jenny, aber es ist wahr. Wie auch immer, wir haben Wichtigeres zu tun als zu streiten.«
Ich starrte sie an.
»Wir müssen üben«, erklärte sie. »Weißt du noch, wie Karl es uns beigebracht hat?«
Also fragten wir einander aus und machten einander darauf aufmerksam, wenn unsere Antworten nicht überzeugend klangen. Karl hatte gesagt: »Erzählt niemals eine Geschichte immer wieder mit den gleichen Worten. Das wirkt äußerst verdächtig. Ihr müsst variieren, so machen es alle, die sich wirklich erinnern.«
Mama sagte: »Von dem Raum hinter dem Theater weißt du überhaupt nichts, verstanden? Ich schon, weil Papa es mir anvertraut hat. Ich habe dazu meine eigene Geschichte, aber die brauchst du nicht zu kennen. Dann kannst du, wenn du dabei bist, während ich sie erzähle, ehrlich überrascht wirken.«
Ich ging zu Bett. Ohne Raffi fror ich und fühlte mich elend. Nach einer Weile gab ich den Versuch zu schlafen auf und machte das Licht an. Ich nahm Raffis Entwurf für unser Haus und prägte ihn mir so lange ein, bis ich ihn auswendig kannte. Dann stand ich auf und ging in die Küche. Muffi erhob sich aus ihrem Korb, streckte sich und folgte mir. Ich verbrannte das Papier in der Glut des Kachelofens.
Während ich Muffi ein paar Stückchen Gans aus der Speisekammer gab, dachte ich: Ich habe es jetzt in mir, das Zuhause, das wir eines Tages haben werden. Keiner kann es mir mehr wegnehmen.
Kapitel Vierundzwanzig
Dezember 1943 bis März 1944
I ch zog die Bettdecke ganz fest um mich und stellte mir vor, wie ich mich an Raffi kuschelte. Im Flüsterton begann ich mit ihm zu sprechen, ganz als wäre er bei mir. »Die Gestapo soll ruhig kommen, Raffi, wir sind bestens vorbereitet. Aber vielleicht kommt sie auch gar nicht und wir haben dich völlig umsonst weggeschickt.« Jetzt weinte ich. »Und ich werde dich nicht zurückbekommen, Raffi, erst wenn die Nazis weg sind, und warum sind sie überhaupt immer noch an der Macht, es weiß doch inzwischen jeder, dass wir den Krieg nicht gewinnen können, warum macht niemand was, damit wir sie loswerden?«
Ich wusste, was er dazu gesagt hätte. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Na gut«, flüsterte ich. »Ich versuch’s, wie schlimm es auch kommen mag. Sogar wenn die Gestapo uns zum Verhör mitnimmt.« Dann fiel mir Muffi ein. Wir waren doch noch nicht bereit für die Gestapo.
Am nächsten Morgen lief ich gleich nach dem Weckerläuten in Mamas Zimmer. »Mama, wenn die Gestapo uns verhaftet, was passiert dann mit Muffi?«
Mama setzte sich im Bett auf und runzelte die Stirn. »Oh je«, sagte sie, »wie konnten wir das nur vergessen?«
»Was machen wir bloß?«, fragte ich.
Mama blickte starr auf das Foto von Papa, das neben ihrem Bett hing. »Grete«, verkündete sie nach einer kleinen Weile. »Muffi mag sie inzwischen.« Das stimmte, auch wenn es wahrscheinlich nur wegen des Essens war, das Tante Grete uns brachte.
Doch ich
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