Nicht ohne dich
nicht«, gestand ich.
»Ich wusste trotzdem, dass du so denkst«, entgegnete Raffi. »Der Rabbi ist ein feiner Mensch. Er kommt uns oft besuchen. Früher hat er bei Papa Bücher gekauft, weißt du, er mochte ihn wirklich gern. Es tut Mama gut, mit ihm zu reden.«
Wenn es Tante Edith guttat, würde ich nicht sagen, wie sauer ich auf den Rabbi war, dabei hatte ich eine Mordswut auf ihn im Bauch. Als ich mit dem Zeigefinger über den Schreibtisch strich, zog ich mir einen Holzsplitter ein. Es tat weh, aber ich war fast froh über den Schmerz, keine Ahnung, warum.
»Es stinkt wirklich zum Himmel«, pflichtete mir Karl bei. »Aber vielleicht helfen euch ja unsere Verwandten in England.«
Raffi fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich habe das ständige Hoffen satt. Man wird immer nur enttäuscht.«
»Sie sind nette Leute, meint Mama. Und vermögend«, sagte Karl. »Sie haben ein großes Haus in Oxford mit einem riesigen Garten.«
»Vielleicht könnte Mama als Hausmädchen arbeiten und ich als Gärtnergehilfe«, überlegte Raffi. »Wir wollen niemandem auf der Tasche liegen.«
»Ich weiß«, sagte Karl.
Raffi zog die Knie an die Brust, schlang die Arme darum und starrte auf seine Hände. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie dieses Anstehen ist. Vorgestern zum Beispiel – es herrschte eine Affenhitze, und da kam so ein Schweinehund auf uns zu und hat uns mit faulen Tomaten beworfen. Eine hat Mama im Gesicht getroffen. Ich wollte zu ihm hin und ihm eine verpassen, aber Mama ließ mich nicht. Sie stand nur da und wischte sich ihr Gesicht mit dem Taschentuch ab. Und er hat gelacht.« Seine Stimme wurde ganz piepsig und er ballte verbittert die Fäuste. »Und als wir dann endlich dran waren, war es das alte Lied. Niemand will uns aufnehmen, weil wir nicht genug Geld haben. Dabei hätte es vielleicht gereicht, wenn dieser hundsgemeine Mingers Mama nicht betrogen hätte.«
»Es stinkt zum Himmel«, sagte ich noch einmal, während ich versuchte, den Splitter zu entfernen. »Warum hat eigentlich nie jemand etwas gegen die Nazis unternommen?«
»Die Engländer und die Franzosen?«, fragte Raffi. Er lehnte sich gegen die Wand und strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Für den Fall, dass wir – dass Deutschland in Polen einmarschiert?«
Er hatte sich nicht zu den Deutschen zählen wollen. Er gehörte jetzt nicht mehr dazu, weil er Jude war.
Ich öffnete den Mund, um zu sagen, dass ich das nicht gemeint hatte, aber Karl kam mir zuvor.
»Wir mussten heute Nachmittag nach Wannsee. Onkel Hartmut ist die ganze Zeit über die Polen hergezogen. Angeblich zünden sie deutsche Bauernhöfe an und beschießen deutsche Passagierflugzeuge – ich glaube, das ist alles Propaganda, Hitler sucht nur einen Vorwand, um sie angreifen zu können. Und warum hat er überhaupt diesen Nichtangriffspakt mit Stalin unterzeichnet?«
»Weil beide denken, sie hätten das Recht, Polen unter sich aufzuteilen«, pflichtete ihm Raffi bei, »so wie es vor dem Ersten Weltkrieg war.«
Plötzlich fing Karl zu grinsen an. »Papa hat Onkel Hartmut gefragt, ob er sich darüber freue, dass sein Führer einen Pakt mit einem Kommunisten geschlossen hat.« Er machte Onkel Hartmuts verärgertes Brummen nach. »Treib’s nicht zu weit, Dietrich.«
Ich lachte nicht mit, weil ich eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, etwas Wichtiges, und sie hatten mich ignoriert. Ich versuchte es noch einmal, aber dieses Mal hielt mich Raffi vom Reden ab.
»Ich glaube nicht, dass die Engländer und Franzosen etwas zur Rettung Polens unternehmen würden. Sie haben letztes Jahr auch zugelassen, dass Hitler die Tschechoslowakei besetzt hat. Daladier und Chamberlain fürchten einen Krieg.«
Jungs, dachte ich. Warum denken sie bloß immer, was sie sagen, ist am wichtigsten? Ich widmete mich wieder dem Splitter. Dieses Mal schaffte ich es, ihn rauszuziehen.
»Die Sache mit Polen geht ihnen vielleicht zu weit«, meinte Karl. »Außerdem hatten sie in der Zwischenzeit Gelegenheit, aufzurüsten.«
»Selbst wenn sie Deutschland den Krieg erklären, werden sie sich nicht für uns einsetzen. Niemand steht auf der Seite der Juden«, sagte Raffi.
Plötzlich wirkte er schrecklich einsam, und ich vergaß, dass ich sauer auf ihn war. Ich strich ihm mitfühlend über den Arm.
Tante Edith kam an die Tür. »Kommt, wir wollen den Kuchen essen.«
Ihr Gesicht war ganz fleckig vom Weinen, obwohl sie sich die Tränen abgewischt hatte. Ich trat zur ihr und gab ihr einen Kuss.
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