Nicht ohne dich
Vandalismus und Mord – hatten sie ein Gesetz erlassen, wonach es Juden verboten war, ein Geschäft zu besitzen oder zu betreiben. Da Onkel Markus noch im Konzentrationslager war, hatte sich Tante Edith um alles gekümmert. Man gab ihr einen Monat Zeit, sich einen Käufer zu suchen, ehe der Laden ohne Entschädigung von den Behörden enteignet werden würde. Auch die Wohnung schrieb sie zum Verkauf aus, denn sie wollte mit der ganzen Familie emigrieren und brauchte dafür so viel Geld wie möglich. Unser neuer Nachbar, Herr Mingers, hatte ihr zunächst ein angemessenes Angebot unterbreitet, es aber kurz vor Ablauf des Ultimatums auf einen lächerlichen Betrag gesenkt. Tante Edith musste trotzdem annehmen, weil sie innerhalb der gesetzten Frist keinesfalls mehr einen anderen Käufer gefunden hätte.
Das Schild stand nun schon sieben Monate im Schaufenster und war ziemlich ausgebleicht. Ob die Mingers es wohl bald herausnehmen oder nur durch ein neues ersetzen würden?
Ich flüsterte Karl zu: »Dass wir die fiesesten Nachbarn in ganz Berlin haben, verdanken wir Adolf Hitler.«
»Still!«, raunte uns Mama mit einem kurzen Blick über die Schulter zu.
Ja, dachte ich, immer schön still sein. Selbst in deiner eigenen Wohnung stülpst du besser einen Teekannenwärmer über das Telefon, wenn du gefährliche Themen anschneidest, für den Fall, dass der Fernmeldetechniker bei der Wartung eine Wanze eingebaut hat. Immer schön den Kopf einziehen. Und ich wusste, dass das vernünftig war, wenn man überleben wollte. Trotzdem machte es mich krank.
Ich dachte an das große Puppentheater in Papas Werkstatt, es war ein richtiges Marionettentheater mit einem verborgenen Stehplatz für die Puppenspieler über der Bühne. Die Kunden konnten dort vor dem Kauf ihre neuen Puppen ausprobieren. Es war mit Schnitzereien verziert, rot lackiert und vergoldet, und Mama hatte blaue Samtvorhänge mit einer Silberborte am Saum dafür genäht. Kurz nach der Kristallnacht war es von der Seitenwand vor die Tür zu Papas Lager gerückt worden. Papa hatte in der Werkstatt eine Stellage angebracht, an der jetzt die Marionetten baumelten, bis sie einen Käufer fanden.
Was wir Lager nannten, war ein enges Kabuff unter der Treppe, die von unserer Küche in den Hof führte. Unsere Wohnung besaß als einzige eine solche Hintertreppe, und außer uns wusste nur Janke, dass sich darunter ein kleiner Raum befand. Er hatte es aber bestimmt niemandem weitererzählt. Im Lager bewahrte Papa etwas Verbotenes auf – vielleicht Quäkerzeitungen? Oder Berichte über die Nazigräuel? Oder Tante Ediths Schmuck, den sie den Behörden hätte aushändigen sollen? Stattdessen hatte sie ihn Mama gegeben, die ihn nach und nach verkaufte, wenn Tante Edith Geld brauchte. Mama brach das Gesetz. Das war mutig von ihr, das musste ich zugeben, aber ich hätte mir gewünscht, dass sie da drinnen Waffen aufbewahrten.
Vor unserer Wohnungstür trafen wir die Familie Mingers, die ganze grässliche Sippe. Den siebzehnjährigen Norbert mit dem Schulterriemen der Hitlerjugend quer über der Brust und den entblößten dicken haarigen Knien. Willi, ein Jahr älter als ich, der zu seinem braunen Hemd und den kurzen Hosen das schwarze Halstuch des Jungvolks trug. Herrn Mingers, dessen Gesicht die Farbe eines Wiener Würstchens hatte und der den achtjährigen Siegfried mit seinen riesigen Gnomenaugen und den mageren bleichen Backen fest an der Hand hielt. Und Frau Mingers mit dem jüngsten Gnom, dem kleinen Adolf – nach wem er benannt war, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Sie war eine große, spindeldürre Frau und ihr ganzer Körper wirkte steif und abweisend – wie ein Besenstiel, dachte ich.
»Guten Tag«, sagte Papa.
»Heil Hitler!«, korrigierte ihn Frau Besenstiel. In Berlin wurde man nicht häufig mit »Heil Hitler« gegrüßt – von Onkel Hartmut natürlich schon. Und die Mingers taten es grundsätzlich. »Warum haben Sie neulich Schwarz getragen?«, erkundigte sich Frau Besenstiel.
Willi Mingers glotzte mich an. Er glotzte immer so, wenn ich ihm begegnete. Es war mir zuwider, auch wenn Willi als einziges Familienmitglied nicht wie ein Monster aussah. Auf eine brutale Art war er fast attraktiv.
»Wir waren auf der Beerdigung eines Freundes«, entgegnete Papa.
Frau Besenstiel schürzte die Lippen, fragte aber nicht nach, wer der Freund gewesen war. Sie hatte es vermutlich sowieso erraten. Wir wurden von manchen unserer Nachbarn verachtet, weil Papa im
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